WERTEORIENTIERUNG UND WERTEENTWICKLUNG IN UNTERNEHMEN

Mrz 24, 2022

WERTEORIENTIERUNG UND WERTEENTWICKLUNG IN UNTERNEHMEN

„Es ist nicht schwer, Entscheidungen zu treffen, wenn du deine Werte kennst.“ (Roy E. Disney)

 

Unternehmen auf der Suche nach ihren Werten – und dem richtigen Umgang damit

Unternehmen haben sich auf die ein oder andere Weise immer schon mit ihren Werten beschäftigt. Mit Grundprinzipien, die ihnen Orientierung und Sinn verleihen. Im Unternehmensalltag bleiben dem Handeln zugrundeliegende Werte häufig jedoch auch unbewusst, intransparent und unreflektiert.

In jüngster Zeit erkennen Unternehmen zunehmend die Bedeutung und Vorteile von Werten. Dabei nehmen auch die Bemühungen zu, Unternehmen in gewollter und umfassender Weise werteorientiert(er) bzw. wertbasiert(er) auszurichten. Dafür gibt es eine ganze Reihe von (nicht überschneidungsfreien) Ursachen und Quellen. Beispielsweise:

  • Werte versprechen eine förderliche Wirkung in und für Organisationen. Gemeinsam geteilte und gelebte Werte stiften im Unternehmen Verbindung, Zusammenhalt, Identifikation, Identität und Sinn. Werte ermöglichen Orientierung, Komplexitätsreduktion und Gewinnung von Handlungssicherheit. Gemeinsam getragene Werte können die Mitarbeitenden selbstbewusst und stolz machen. Gelebte Werte machen Menschen und Unternehmen authentisch.
  • Gesamtgesellschaftlicher Wertewandel, wie auch der Wertewandel innerhalb relevanter Bezugsgruppen, erfordern regelmäßige Anpassungsreaktionen der Unternehmen; oder „zwingen“ diese möglicherweise sogar dazu.
  • Werte verleihen der Unternehmenskultur eine stabile Basis und sichtbaren Ausdruck. Kulturentwicklung führt zugleich nur über Werte.
  • Werte können darüber hinaus Marken prägen und profilieren.
  • In zunehmend diversen Belegschaften (zumal in international aufgestellten Unternehmen) treffen vielfältige, teils auch konträre individuelle Wertevorstellungen bzw. Wertewelten aufeinander. Diese können die Verständigung auf ein gemeinsames Wertefundament erschweren, wenn dazu Vermittlung und Austausch fehlen.
  • Gelebte Werte sind etwas, das Unternehmen auch nach außen anziehend machen kann (für Kunden, Bewerber, Partner, Öffentlichkeit etc.). Von und mit Anderen geteilte Werte können auch weit über das eigene Unternehmen hinaus eine mächtige Wirkkraft, Begeisterung, Bindungen, Austausch und Solidarität stiften und fördern.

Zugleich werden aber auch wertebezogene Forderungen und Erwartungen unterschiedlicher Stakeholder an Unternehmen lauter: Unternehmen sollen ihre Werthaltungen transparent machen, sich wertebasierter verhalten (wobei hier explizit oder implizit immer bestimmte Werte gemeint sind). In vielen Branchen wird beispielsweise erkennbar, dass Kunden ihre Kaufentscheidungen nicht mehr allein an Preis-Leistungs-Kriterien ausrichten, sondern vermehrt nach den Werten, die ein Unternehmen lebt und die in der Unternehmenspraxis erkennbar werden (oder nicht).

  • Etwa im Kontext von Klimakrise, ökologische Investments, Diversität, Soziale Gerechtigkeit, Zero Waste, Fair Trade, Lieferketten, Ressourcenverschwendung, Umgang mit Mitarbeitern und Lieferanten, etc. Auch wenn dies nicht konsequent geschieht, ist die Entwicklungsrichtung eines stärker „wertekompatiblen“ Kauf- und Konsumverhaltens doch eindeutig. Unternehmen und deren Mitarbeiter werden zunehmend auf ihre Werte und werteorientiertes Handeln hin überprüft (insbesondere dann, wenn Unternehmen bestimmte Werte besonders laut proklamieren und für sich in Anspruch nehmen).
  • Nicht zuletzt spielen auch bei der Arbeitgeberwahl (soziale, ökologische, ökonomische, gesellschaftliche) Werthaltungen von Unternehmen für die Bewerber eine wachsende Rolle.
  • Kurz: Es besteht, in mehr oder weniger ausgeprägter Form, der Wunsch bei „guten“ (wertebasierten) Unternehmen zu arbeiten, zu kaufen, sich in diesen zu engagieren, und die Beziehungen zu Unternehmen als mit den eigenen Werten kompatibel zu erleben.

Unter diesen und weiteren Gesichtspunkten macht eine verstärkte Beschäftigung mit der Werteorientierung und Werteentwicklung in Unternehmen hohen Sinn. Auch wenn die Bedeutung von Werten bisweilen vernachlässigt wird, sind diese offenbar etwas Wertvolles und Entscheidendes. Zugleich zeigt sich in der Praxis, dass vielen Unternehmen die Auseinandersetzung mit Werten nicht leicht fällt. Und, dass es sehr verschiedene Wege des Umgangs mit Werten gibt.

 

Hintergrund: Was sind überhaupt Werte?

Werte – wie etwa Freiheit, Sicherheit, Toleranz, Glaubwürdigkeit, Gerechtigkeit, Fairness, Nachhaltigkeit, etc. – geben Menschen Sinn und grundlegende Orientierung. Für ihr Handeln, für ihre Beziehung zur Welt und zu sich selbst. Werte leiten an, treiben an, verbinden, unterscheiden und trennen. Das gilt für Individuen, soziale Gruppen, Gesellschaften und Kulturen.

Werte beruhen auf bestimmten (ganzheitlichen, nicht rein kognitiven!) Bewertungen, Stellungnahmen und Entscheidungen. Sie korrespondieren mit der elementaren Grunderfahrung, dass wir etwas in der Beziehung zur Welt als in hohem Maße bedeutsam erfahren. Es als positiv, anziehend, richtig, gut, moralisch, ethisch, wertvoll, existentiell erleben und bewerten. Anderes hingegen – in Abgrenzung dazu – als negativ, abstoßend, verwerflich, bedrohlich, feindlich.

Werte sind für den Menschen als Kulturwesen konstitutiv und Grundlage jeder Art der Kultur. Kein hinzukommendes Anhängsel. Werte haben immer unmittelbaren Handlungsbezug. Kultur (auch die Unternehmenskultur) ist zugleich ein Medium, in dem spezifische Wertvorstellungen weitergegeben, vermittelt und prinzipiell auch verändert werden können (bspw. in Form von Regeln, Gewohnheiten, Bräuchen etc.).

Der spezifische Inhalt von Werten ist zunächst einmal offen. Werte können auf inhaltlicher Ebene sehr unterschiedlich, individuell, widersprüchlich, umstritten, gegenläufig, historisch gewachsen veränderlich sein. Welche Bewertungen wir als Individuen oder Kollektiv zu relevanten Weltausschnitten vornehmen, an welchen Werten wir uns orientieren, welche Werte wir als einladend erleben, für welche Werte wir einstehen, für welche wir Verantwortung übernehmen wollen – und für welche nicht – ist nicht „naturhaft“ vorgegeben.

Daher wäre auch die Aussage, ein bestimmter Mensch, eine bestimmte soziale Gruppe habe keinerlei Werte, irreführend. Korrekt wäre zu sagen, dass da offenbar jemand ist, der die eigenen Werte nicht teilt, der andere (von uns wiederum nicht geteilte) Werte vertritt, oder dessen Wertewelt wir nicht verstehen, die uns befremdet, für uns im Dunklen bleibt. Werteordnungen, die für sich alleinigen Bedeutungs- oder Wahrheitsanspruch reklamieren (und daraus bspw. die Überlegenheit bestimmter Kulturen über andere ableiten) haben hingegen ideologischen Charakter.

 

Werte bleiben oft unbewusst und unreflektiert

Werte zeigen sich häufig erst in Krisen- und Konfliktsituationen und bei grundlegenden Entscheidungen. Speziell auch dann, wenn eigene Werte „verletzt“ werden. Dies spüren wir unmittelbar, als ganzer Mensch: körperlich, emotional und kognitiv.

Auf besonders tiefgreifende Weise erleben wir dies aktuell im Krieg in der Ukraine; ebenso aber auch im Umgang mit der Corona-Pandemie oder der Klimakrise. Hier werden tief verankerte Werte angesprochen, prallen teils auch gegensätzlich aufeinander.

Im normalen, selbstverständlich erscheinenden Alltag können Werte hingegen oft auch nur wenig bewusst, unausgesprochen und unreflektiert bleiben. Dennoch sind diese immer vorhanden und wirksam. Zugleich lassen sich Werte von Motiven unterscheiden. Werte implizieren immer bereits eine aktiv bewertende Unterscheidung: positiv und negativ, richtig und falsch, gut und böse, etc.

 

Werteorientierung und Werteentwicklung in Unternehmen

Im Folgenden sollen für den unternehmerischen Kontext weitere Gedanken und konstruktiv-kritische Anregungen zum Umgang mit Werten und diesbezüglichen organisationalen Prozessen formuliert werden. Fragen Sie sich zunächst jedoch einmal selbst:

Welche Werte vertritt Ihr Unternehmen? Wie transparent und reflektiert ist die Wertewelt Ihres Unternehmens? Wie wird mit Werten umgegangen? Welche Formen des organisationalen Austauschs gibt es dazu? Wie erleben Sie persönlich die Wertewelt Ihres Unternehmens? Woran zeigt sich, dass Ihr Unternehmen für bestimmte Werte einsteht, darin investiert, diesen treu ist? In welchem Maße werden proklamierte Werte tatsächlich gelebt? Wie wird mit Wertekonflikten und mit Werteverletzungen umgegangen? Gibt es auch in Ihrem Haus Bestrebungen, das Unternehmen verstärkt wertebasiert auszurichten? Welche organisationalen Mittel und Prozesse werden dafür eingesetzt? Wie werden die Mitarbeiter dabei einbezogen?

 

Werte sind keine Dinge

Recht verbreitet ist die Vorstellung, man könne Werte in Unternehmen „einführen“. Oder diese in irgendeiner Form „machen“, „verordnen“, „ausrollen“, „trainieren“, etc. Ein solcher instrumentell-verdinglichender Umgang mit Werten erscheint bereits im Ansatz höchst fragwürdig, zumindest aber missverständlich.

Unternehmen haben als soziale Gruppe immer schon Werte. Diese haben sich in zahlreichen Erfahrungs- und Bewertungsprozessen über die Zeit schrittweise herausgebildet und verankert. Diese können nicht „erfunden“, sondern nur „gefunden“, erfahren und reflektiert werden.

 

Es gibt keine wertfreien Räume

Ebenso abwegig erscheint die Annahme, dass man sich als Unternehmen in der Beziehung zur Welt (zu relevanten Weltausschnitten) „wertfrei“ verhalten könne. Zutreffender ist, dass man allenfalls so tun kann, als ob man sich wertfrei bzw. neutral zur Welt verhalten könne. Das „In-der-Welt-Sein“ von Unternehmen ist untrennbar mit bewertenden Stellungnahmen zur relevanten Mit- und Umwelt verbunden. Auch der Versuch einer Nicht-Stellungnahme ist eine Stellungnahme (ebenso wie auch Schweigen eine Form der Kommunikation und keine „Nicht-Kommunikation“ ist). Kurz: Es gibt – auch für Unternehmen – keine wertfreien Räume.

 

Werte als reine Begriffe sind wertlos

Werte als reine Begriffe bleiben „wertlos“. Allenfalls eine bloße Absichtsbekundung, reine Proklamation. Werte sind immer mit Handlungen verbunden. Daher sind allerlei zeitaufwendige Versuche in Unternehmen, Werte zu „definieren“ – statt diese unmittelbar aus der Handlungspraxis heraus erfahrbar und besprechbar zu machen – kritisch zu betrachten. Werte lassen sich auch nicht für andere definieren. Ein abstrakter, rein begrifflicher Umgang mit Werten führt regelmäßig in die Irre und in Sackgassen.

Weit mehr Sinn macht ein Erfahrungsaustausch zu den in der Unternehmenspraxis erlebten Werten. Wichtige Fragen lauten dabei beispielsweise: An welchen Werten orientieren wir uns im Unternehmensalltag? Welche Werte liegen unserem Handeln zugrunde? Und: Passt das erlebte und gezeigte Handeln zu den gewünschten oder angestrebten Werten?

Dabei können auch unterschiedliche Werteverständnisse zu Tage treten und sich in wechselseitigen Erfahrungsaustausch bringen. Ein lediglich allgemeiner, rein begrifflicher, definitorischer oder instrumenteller Umgang mit Werten bleibt hingegen abgehoben, kalt, emotionslos, fremd, enttäuschend. Über Begriffe und Definitionen können Unternehmenswerte (ebenso wie Markenwerte) nicht lebendig, bedeutsam und wertvoll werden. Keine Resonanz erzeugen. Gelingen und Scheitern wertebezogener organisationaler Prozesse liegen oft nah beieinander.

 

Werte sind etwas anderes als Verhaltensvorschriften

Ebenso macht es im Rahmen von wertebezogenen Prozessen in Unternehmen auch nur wenig Sinn, im Hinblick auf bestimmte Werte endlose Listen für „richtiges“ und „falsches“ Verhalten aufzustellen. Grundlegende Werthaltungen und Wertesysteme sind etwas anderes als kleinteilige Verhaltenskataloge. Einzelne Verhaltensweisen und Handlungskontexte können Wertefundamente immer nur beispielhaft erfahrbar und sichtbar machen. Sind bestimmte Werte als bedeutsam und handlungsrelevant erkannt, reflektiert und verinnerlicht, spüren wir intuitiv, was auf der Verhaltensebene als richtig und falsch einzuordnen ist. Ebenso in welchem Maße man Werten im Handeln treu ist oder nicht. Auch von daher erscheint es wichtig, werteorientierte Reflexions-, Austausch- und Entwicklungsprozesse deutlich stärker intuitiv und emotional als nur kognitiv bzw. „kopflastig“ zu gestalten.

 

Wertekonflikte sind unvermeidbar

Unternehmen bilden über die Zeit mehr oder weniger komplexe Wertesysteme und auch Wertehierarchien aus. Dabei können einzelne Werte immer wieder auch mit anderen Werten in Konflikt treten. Dies ist die Regel und keine Ausnahme. Denken Sie zum Verständnis beispielhaft nur einmal an Wertepaare wie Freiheit und Sicherheit, Vertrauen und Kontrolle, Autonomie und Gemeinwohl. Die Lösung kann hier nun aber nicht darin bestehen, solche Wertekonflikte zu leugnen oder diese begrifflich harmonisierend zu umschiffen. Vielmehr geht es darum, verschiedene Werte bzw. Werteleitbilder zu balancieren, unvermeidbare Spannungsverhältnisse transparent zu machen, sich diesen zu stellen. Diese in der Unternehmenspraxis produktiv zu nutzen, zu vermitteln, zu gestalten. Wertekonflikte sind etwas völlig Normales und sollten daher im organisationalen Austausch auch nicht tabuisiert werden.

 

Werte leben, statt Werte proklamieren

Werte zu leben – statt diese lediglich zu proklamieren – ist elementar auf dem Weg zu einer stärker wertebasierten Ausrichtung von Unternehmen. Alles andere wäre substanzlos, Schall und Rauch, kurzsichtiger und letztlich auch gefährlicher PR-/Marketing-Aktionismus. Gleichzeitig lassen sich Werte nie zu „100 Prozent“ leben. Ein solch überhöhter Anspruch wäre unrealistisch, überfordernd, lebensfern, illusorisch. Nicht zuletzt, da bestimmte Werte mit anderen in Konflikt treten können. Und auch, weil wertebezogene Entscheidungen nie unfehlbar oder alternativlos sein können.

Ein wichtiges, und auch überprüfbares Unterscheidungskriterium ist aber, wie ernsthaft, wie entschieden, wie dauerhaft, wie überzeugend bestimmte Werte gelebt und im Handeln beherzigt werden. Auch, ob sich über die Zeit mit Blick auf angestrebte Werte Entwicklungen und Fortschritte zeigen. Prozesse der Werteorientierung und Werteentwicklung sind dabei weder ein Wunschkonzert noch ein Sprintprozess. Vielmehr geht eine ernsthafte Werteorientierung immer mit Verantwortung, Konsequenz und Verpflichtung einher: die eigenen Werte zu beherzigen, diesen treu zu sein, diese authentisch und selbstbewusst zu vertreten, in diese zu investieren. Diese wo nötig zu verteidigen, einen „Preis“ dafür zu bezahlen; mögliche Nachteile, Verluste und Verzichte in Kauf zu nehmen (beispielsweise auch, indem bestimmte Geschäfte bewusst nicht gemacht oder angestrebt werden, oder Kundengruppen mit in hohem Maße konträren Wertvorstellungen nicht angesprochen werden).

 

Werte lassen sich nicht delegieren

Von Führungskräften wird immer wieder gefordert, Werte in besonderer Weise vorzuleben. Diese Forderung erscheint zunächst einmal auch völlig berechtigt. Zumal das Management wichtige Rahmenbedingungen und Signale für bestimmte Wertorientierungen in Unternehmen setzt, diese auch in besonders sichtbarer Form lebendig repräsentieren kann.

Für sich genommen greift diese Forderung jedoch zu kurz. Unternehmensbezogene Werte lassen sich nicht delegieren oder verordnen. Weder nach unten noch nach oben. Unternehmen bilden im Ganzen eine Wertegemeinschaft, oder sie zerfallen und erstarren in grüppchenartigen, rein individuellen oder letztlich beliebigen Wertorientierungen. Unternehmenswerte brauchen daher sehr viele Vorbilder. Werte müssen (um mehr als reine Proklamation oder Wunschdenken zu sein) die Unternehmenspraxis im Ganzen durchdringen. Wertekompatible, ebenso wie werteverletzende Handlungen – nach innen wie außen – finden auf allen Unternehmensebenen statt. Bequeme Zuschauerhaltung und Wertedelegation tragen nicht zu einer substanziellen Werteorientierung in Unternehmen bei, liefern keinen echten Wertebeitrag.

 

 

„Es gibt noch etwas anderes als Moden. Es gibt Werte, es gibt Wahrheiten.“
(Simone de Beauvoir)

 

Wege zu einer substanziellen und authentischen Werteorientierung in Unternehmen

Wie aber lässt sich in Unternehmen ein fruchtbarer, authentischer und wirkungsvoller Weg der gewollten Werteorientierung finden? Was lässt sich tun, damit Werte nicht zu leeren Worthülsen, zu bloßen Absichtsbekundungen, zu reinen Wunschgebilden, zu abstrakten Kopfgeburten, zu verdinglichter Vermarktungsware werden? Wie lässt sich verhindern, dass Werteideen entkernt, entleert und von der Unternehmenspraxis abgekoppelt werden? Wie lässt sich im Gegenteil erreichen, dass Unternehmenswerte substanziell Orientierung bieten, die Handlungssicherheit erhöhen, zur Sinnstiftung beitragen, zur Reifung und Stärkung der Gemeinschaft beitragen, nach innen wie außen Überzeugung und Begeisterung entfalten?

 

Geht man davon aus, dass Unternehmen immer schon Werte haben, liegt der fundamentale erste Schritt darin, eben diese gelebten Werte zu entdecken, transparent(er) – und damit auch besprechbar(er) – zu machen, zu reflektieren, zu hinterfragen. In nachfolgenden Schritten bestehende Wertesysteme dann möglicherweise auch neu zu balancieren und weiterzuentwickeln.

Im Mittelpunkt stehen dabei Fragen wie: Wie erleben wir unsere Wertewelt? Was macht unseren Wertekern aus? Wie förderlich und unterstützend sind unsere Werte im praktischen Unternehmensalltag? Welche gelebten Werte machen uns stolz und treiben uns positiv an? Auch: Welche unserer Werte behindern uns möglicherweise, welche sollten möglicherweise stärker als bisher beherzigt werden?

Ausdrücklich nicht im Zentrum stehen sollte hingegen die Frage: Wer wollen oder sollten wir (wertebezogen) sein? Andere als bereits vorfindbare und unmittelbar erfahrbare und bereits gelebte Werte lassen sich erst aus einer zuvor veränderten Unternehmenspraxis heraus entwickeln. Diese lassen sich nicht einfach herbeiwünschen oder sich beliebig ausdenken oder überstülpen (dies mag man versuchen, kommt damit aber nicht weit)

Für die Wertereflexion und Werteentwicklung in Unternehmen bieten sich verschiedene (sich nicht ausschließende) Wege an. Diese müssen in ihrer spezifischen Ausgestaltung jeweils an die bestehende Unternehmenskultur angepasst werden, d.h. für das eigene Unternehmen und dessen Reifegrad passen und stimmig sein.

 

• Der Weg der Wertereflexion

Einen „Königsweg“ stellt die kontinuierliche Wertereflexion Im Unternehmen dar. Dabei wird auf allen Unternehmensebenen (bspw. am Ende von Meetings) ein regelmäßiger wertebezogener Austausch etabliert. Entscheidend ist dabei, von konkreten Handlungen und Handlungskontexten auszugehen (um die es gerade geht) – nicht nur allgemein über im Unternehmen erlebte Werte zu sprechen! Primär ist der unmittelbare, erfahrungsbasierte Austausch.

Welche Werte werden/wurden in der konkreten Situation als hilfreich, unterstützend, förderlich erlebt? Zugleich sind auch kritische Situationen anzusprechen: Welche möglichen hinderlichen oder sich widersprechenden Werte zeigen sich im aktuellen Kontext?

Zu Beginn, bevor sich ein solches Vorgehen verselbständigt und ritualisiert, kann dieser Weg auch moderiert und eingeübt werden.

 

• Der Weg der wechselseitigen Vorbildreflexion

Bei diesem Weg geht es darum, im Arbeitsalltag wiederholt zu reflektieren, in welchen Situationen Führungskräfte, Mitarbeiter, Kollegen etc. als positives Vorbild erlebt werden und zugleich, wo man selbst für andere ein bedeutsames Vorbild ist. Solche signifikanten Vorbilderfahrungen können dann auch in ein Werteleitbild einfließen.

 

• Der Weg der problemlösenden Werteorientierung

In Unternehmen sind regelmäßig wichtige Probleme zu lösen, Konfliktsituationen zu klären und bedeutsame Entscheidungen zu treffen. Zu Beginn der Lösungssuche wird reflektiert, welche Werte dabei leitend sein sollen, hilfreich sind, zumindest aber anstrebenswert.

 

• Der Weg der Reflektion von Rahmenbedingungen für Werte (Werterahmen)

Jedes Unternehmen gibt sich über die Zeit verschiedene Rahmenbedingungen. Diese können mit Blick auf einzelne Werte unterschiedliche Wirkungen entfalten: Werte in mehr oder weniger starkem Maße einladen, unterstützen und verstärken. Andere hingegen eher behindern oder vernachlässigen. Eine gewollte Werteorientierung und Werteentwicklung in Unternehmen kommt um eine kritische Reflexion der wertebezogenen Wirkungen solcher (grundsätzlich veränderbarer) Rahmenbedingungen nicht herum. Rahmenbedingungen müssen verändert werden, wenn diese erwünschte und angestrebte Werte nicht unterstützen oder diesen sogar zuwiderlaufen (bspw., wenn exzellenter Kundenservice einen besonders hohen Wert darstellt, dafür erforderliche Ressourcen aber nicht ausreichend sind).

 

• Der Weg von Werteworkshops

Werteworkshops sind sinnvoll, wenn es darum geht, den Umgang mit Werten im Unternehmen in verdichteter Form überhaupt erstmal bewusster, reflektierter und besprechbarer zu machen. Zugleich auch mögliche veränderte oder neue Werthaltungen in Vermittlung und Austausch zu bringen, Werte in spezifischer (angestrebter) Weise weiterzuentwickeln. Solche Formate dürfen aber nicht den Charakter von geschlossenen Inselveranstaltungen oder Alibi-Veranstaltungen gewinnen (bspw. indem Wertethemen in singuläre Zirkel delegiert werden, lediglich in höheren Hierarchieebenen verhandelt oder ausschließlich hierarchisch vermittelt werden). Vielmehr müssen solche Austauschformate in einen Gesamtprozess integriert werden und dabei ergebnisoffen bleiben. Andernfalls besteht die Gefahr, dass solche Formate auf Misstrauen stoßen, nicht ernst genommen werden und letztlich wirkungslos bleiben. Dies gilt auch für weitere Werte-Kommunikationen, die nur wenig Anschlussfähigkeit herstellen.

 

• Werte im Rahmen von Recruiting & Onboarding

Abschließend sei hier noch angesprochen, dass Unternehmen als Wertegemeinschaften ein grundsätzliches Interesse daran haben müssen, diesbezüglich zu ihnen passende Mitarbeiter zu gewinnen. Menschen, die bestimmte leitgebende und angestrebte Werte teilen, mittragen, mitverantworten. Auch Prozesse des Recruitings und des Onboardings sind daher im Hinblick auf Unternehmenswerte zu überprüfen und zu reflektieren, bei Bedarf auch anzupassen.

 

Beiträge der Organisationsforschung & Organisationsentwicklung

Die Organisationsforschung (mit Blick nach außen auch die Marktforschung), und darauf aufbauend die Organisationsentwicklung, kann in substanzieller und vielfältiger Weise zu Prozessen der Werteorientierung und Werteentwicklung in Unternehmen beitragen. Beispielsweise:

  • Qualitative Explorationen der erlebten Wertewelt in Unternehmen sowie des organisationalen Umgangs mit Werten
  • Untersuchung der Kenntnis, Transparenz, Akzeptanz und Relevanz organisationaler Werte/Wertesysteme/Werteleitbilder
  • Identifikation wertebezogener Entwicklungspotenziale und Erwartungen
    Evaluation expliziter und impliziter Wertesysteme
  • Untersuchung der Werte-Kommunikation nach innen und außen (Einfachheit, Verständlichkeit, Authentizität, Glaubwürdigkeit, Resonanz etc.)
    Untersuchung der Kenntnis und Nutzung wertebezogener Kommunikations- und Dialogformate
  • Untersuchung der Art und Häufigkeit von Werte-Konflikten in Wertesystemen und des Umgangs mit Werte-Spannungsfeldern (u.a. werden diese konstruktiv genutzt oder überfordern bzw. lähmen diese im Berufsalltag?
  • Untersuchung der Passung von Unternehmenswerten und Markenwerten
  • Untersuchung des von den Mitarbeitern erlebten Grades der „Einlösung“ angestrebter bzw. erwünschter Werte
  • Differenzierung organisationaler Ebenen im Umgang mit Werten bzw. der Werte-Reflektion: Ich-Ebene, Team-Ebene, Führungsebene, Unternehmen als Ganzes
  • Untersuchung von Unternehmenswerten aus Sicht von Kunden, Partnern, Öffentlichkeit etc. (Kenntnis, Relevanz, Resonanz, Wirkung etc.)
  • Untersuchung der Verankerung von Werten in bestehenden Recruiting- und Onboarding-Prozessen
  • Konstruktiv-kritische Begleitung organisationaler Prozesse der Wertereflexion und Werteentwicklung (wichtiger Blick von außen und über den Tellerrand hinaus)
  • Konzeption und Moderation von Werte-Workshops
  • U.v.a.m.

Wichtig ist, dass die verschiedenen Untersuchungen und Begleitformen in einen integrierten Gesamtprozesses verortet und verankert werden (Phasen und Stationen der Exploration, Reflexion, Vermittlung, Prüfung, Entwicklung, etc. von Werten).

 

Fazit und Ausblick

Eine wirklich bewusstere Werteorientierung in Unternehmen geht nur über den Weg des wiederholten und vertiefenden Austauschs über die in der Unternehmenspraxis erlebten Werte. Werte entwickeln sich aus der Erfahrung heraus. Nur so lässt sich schrittweise eine stabile Wertekultur aufbauen und die Unternehmenskultur insgesamt weiterentwickeln. Damit dies gelingt, sollten Werte nicht vorab festgelegt, definiert, proklamiert, instrumentalisiert, etc. werden; oder nur allgemein über erlebte Werte gesprochen werden.

Vielmehr sollten vorhandene Werte gemeinsam entdeckt, reflektiert, lebendig erfahrbar und – wo angestrebt – über eine veränderte Praxis auch veränderbar werden. Jeder im Unternehmen kann dazu einen Beitrag leisten und den Prozess der Werteorientierung miterleben. Werte können so ihre ganze positive Kraft entfalten.

Ein nur abstrakter, instrumentell-verdinglichender, rein rationaler, verkürzter oder bloß wünschender Umgang mit Werten führt hingegen regelmäßig in Sackgassen und zu Enttäuschungen – im Unternehmen selbst wie auch in der Beziehung zu relevanten externen Bezugsgruppen und zur Öffentlichkeit.

Nachwort: Die durchdringende Kraft von Werten zeigt sich aktuell in der Ukraine. Leider auf äußerst tragische, im Kern aber auch ermutigende und beeindruckende Weise. Im Vergrößerungsglas und in geschichtlicher Dimension wird hier deutlich, was es bedeutet, Werte zu haben (in diesem Falle Freiheit, Unabhängigkeit, Demokratiestreben). Mutig und standhaft für diese einzustehen, diese notfalls auch unter hohen Verlusten zu verteidigen. Möge dies am Ende, und möglichst schnell und dauerhaft, mit einer guten und friedlichen Zukunft für die Ukraine und ihre Menschen belohnt werden.

 

Kontakt aufnehmen

Interessiert am weiteren Austausch zum Thema werteorientierte Unternehmensführung, Werteentwicklung sowie zu verbundenen organisationalen Projekten? Sprechen Sie uns gerne an: Tanja Höllger – tanja.hoellger@heuteundmorgen.de – Telefon: +49 221 995 005-12. Wir freuen uns auf Sie!

Weitere Blogbeiträge zu zukunftsrelevanten Themen, speziell auch zum Purpose in Unternehmen oder zur Organisationsentwicklung finden Sie regelmäßig auch auf der Themen-Übersicht unseres Blogs „Plan Z – Zeit für Zukunft“.

 

Literaturempfehlung: Dagmar Werther (Hrsg.; 2015): Vision, Mission, Werte. Beltz Verlag, Weinheim und Basel.

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