Sehr viele Consumer Journeys beginnen heute im digitalen Raum. Und je nach Produktsegment finden dort mittlerweile bereits über 50 Prozent der Transaktionen und Abschlüsse statt. Insgesamt haben sich die Prioritäten in den Touchpoints der Customer Journey verschoben und werden voraussichtlich künftig noch weiter in die digitale Welt vorrücken. Möglicherweise einmal bis hinein in eine noch umfassendere (freilich erst geplante) virtuelle Welt eines „Metaverse“.
Induziert erscheint die fortschreitende Verlagerung des Lebens (speziell auch sozialer und wirtschaftlicher Aktivitäten) vom physischen in den digitalen Raum sowohl verbraucherseitig als auch unternehmensseitig: Konsumenten schätzen die verbundene Bequemlichkeit, Einfachheit und Kontrolle; sichtbar werden darin zugleich der Rückzug aus der realen Welt sowie die Abkehr von persönlichen Beziehungen im Konsumentenalltag. Auf der anderen Seite sind es Unternehmen selbst, die ihre Kunden bewusst aus dem physischen in den digitalen Interaktionsraum gedrängt haben und im Wesentlichen nur noch als digitale Funktionsautomaten agieren. Dies verspricht effizienter, kostengünstiger und skalierbarer zu sein.
Damit könnte man schnell zum Schluss kommen: die physisch vermittelte Konsumwelt sei letztlich obsolet und nur noch ein Auslaufmodell.
Auf das richtige Mischungsverhältnis kommt es an
Freilich greift eine solche vereinseitigende Betrachtungsperspektive deutlich zu kurz; Führt in die Irre; Täuscht darüber hinweg und verschleiert, dass es für Unternehmen um weit größere und komplexere Anforderungen geht: Um die Neubestimmung und Balancierung des Verhältnisses von digitaler und physischer Welt. Um Mischungsverhältnisse. Um die Bemessung und Einordnung der Wirkungen stattfindender Verschiebungen und Verlagerungen in den Consumer Journeys. Um die schlichte Anerkennung der Tatsache, dass Unternehmen und Marken faktisch im fortwährenden Spagat zwischen digitaler und analoger Welt stehen. Ein Balanceakt, den es immer wieder neu zu meistern gilt und der für Unternehmen – und speziell für Marken – in hohem Maße erfolgskritisch bleiben wird.
Besonders für Premium-Marken – die auf einzigartige Markenerlebnisse und langfristige Kundenbeziehungen setzen – bleibt wichtig zu erkennen, dass die physische Welt weiterhin relevant, wichtig und teils unverzichtbar ist und bleiben wird.
Auch in einer immer digitaleren Welt sind Menschen nach wie vor entscheidende Faktoren beim Kauf und Abschluss von Geschäften. Trotz des wachsenden Einflusses von Online-Handel besteht weiterhin ein starkes Bedürfnis nach persönlicher und physischer Erreichbarkeit von Anbietern. Die physische Welt des Einkaufens ist nicht veraltet oder eine Nische, sondern ein wichtiger Bestandteil des gesamten Systems.
In einer Welt, die immer digitaler wird, wären beispielsweise die langen Warteschlangen vor den Geschäften bekannter Marken unverständlich. Warum sollten volldigitalisierte Unternehmen danach streben, auch in der physischen Welt präsent und erreichbar zu sein? Ebenso wäre es nicht nachvollziehbar, warum Unternehmen ihre Vertriebsmannschaften stärken und nach guten Verkäufern suchen. Ignoriert würden auch die Erkenntnisse, dass rein digital vermittelte Einkaufserlebnisse – insbesondere bei hochwertigen und komplexen Produkten – oft höhere Abbruchquoten und niedrigere Konversionsraten aufweisen, im Vergleich zu Erlebnissen, die auch physische Kontaktpunkte einschließen.
Dies gilt nicht nur für Kundengruppen, die weniger digital affin sind oder als „aussterbend“ betrachtet werden, sondern je nach Produktsegment gleichermaßen auch für junge „Digital Natives“. Selbst für diese bleiben physische Erreichbarkeit und reale Erlebnisse wichtig, wenn auch in verschiedenen Mischungsverhältnissen zwischen digitalen und analogen Beziehungskontexten.
Für Unternehmen ist es daher entscheidend, nicht nur im digitalen Raum präsent zu sein und dort interaktiv zu agieren, sondern auch physische Kontaktmöglichkeiten aktiv zu integrieren, zu gestalten und zu nutzen. Dies ermöglichten Bedürfnissen der Kunden gerecht zu werden und gleichzeitig die eigene Präsenz und Bindungskraft im Markt zu stärken.
Entwicklung bleibt hochdynamisch
Zugleich wird das Verhältnis von digitaler und physischer Konsumwelt auch künftig ein hochdynamisches und teils auch ambivalentes bleiben: Aktuell werden beispielsweise unterschiedliche sprachbasierte KI-Modelle – und deren unternehmensspezifische Umsetzung in sprachfähige Bots im Kundenservice – als weiterer Schritt in Richtung stärkerer Digitalisierung und Depersonalisierung der Customer Journey bzw. der Kundenbeziehungen propagiert. Umgekehrt wird – angesichts eines unreflektierten Primäranspruchs digitaler Strategien – bereits von einer Renaissance klassischer analoger Kundenbeziehungen und Kundenerlebnisse gesprochen.
Gewarnt sei auch hier, darüber in einfachen „Entweder-Oder“-Kategorien zu denken und zu handeln.
Gleichzeitig wird die Zahl der Kanäle, auf denen sich Kunden informieren, austauschen und einkaufen – und darüber mit Unternehmen und Marken in Berührung kommen – weiter wachsen. Und weiterhin werden mächtige Online-Händler, Vergleichsportale und Social-Media-Plattformen die Konsumentenströme und Verbraucherentscheidungen in erheblichem Maße beeinflussen. Manchen Unternehmen mag dies nutzen, anderen hingegen nicht.
Unternehmen müssen sich individuell positionieren
Essentiell erscheint daher mit Blick auf das eigene Unternehmen, sich angesichts der weiter wachsenden Vielfalt der digitalen Touchpoints und Kanäle im digitalen Raum (u.a. Social Media) nicht im Kleinen oder Einzelnen zu verlieren – zugleich im Balanceakt zwischen digitaler und analoger Welt nicht starren Konzepten zu folgen.
Vielmehr gilt es, die für die eigene Marke wirklich relevanten Kontaktpunkte zu identifizieren. Und diese von reinen „Touchpoints“ idealerweise zu „Trustpoints“ und „Customer-Delight-Points“ weiter zu entwickeln und markengerecht zu gestalten. Dabei ist, gerade für Premium-Marken, neben bloßer Kundenzufriedenheit verstärkt auch der Faktor Kundenbegeisterung zu berücksichtigen. Gerade im stark technisch-funktional geprägten digitalen Raum zeigen sich immer noch erhebliche Defizite in puncto Markenerlebnis und bei der Herausarbeitung eigener Vorzüge und Differenzierungen gegenüber Massenprodukten bzw. Standardprodukten. Rein transaktionsorientierte Ansätze – wie etwa auf den großen Online-Handelsplattformen, aber auch in unternehmenseigenen Shops – greifen für Markenanbieter deutlich zu kurz. Eigene Online-Shops müssen vielmehr zu „Markenleuchttürmen“ ausgebaut werden, nicht nur technologisch oder funktional an der Spitze sein.
Überprüft werden sollte auch das pauschale „Omnichannel – Omnipräsenz – Dictum“.
Beschränkte Ressourcen sollten nicht einfach mit der Gießkanne und auch nicht nur mit Blick auf kurzfristiges Performance Marketing, sondern gezielt an den für den Aufbau nachhaltiger Kundenbeziehungen und für die eigene Marke jeweils relevantesten Stellen erfolgen. Freilich gilt es diese individuell zu identifizieren und im Gesamtkontext richtig einzuordnen.
In der internen Analyse sollte auch die Frage ergebnisoffen sein, inwiefern aktuell vorfindbare bzw. typische Customer Journeys lediglich die Qualität einer „Anpassung“ der Kunden an unternehmensseitig bereitgestellte Wege und Interaktionsformate aufweisen (im Sinne: „Kunden müssen sich entsprechend umstellen/ anpassen“). Oder ob diese auch Begeisterung (und nicht nur passive Zufriedenheit) stiften können. Und wenn nicht in anderer Richtung verändert, balanciert oder ergänzt werden sollten (im Sinne: „Unternehmen folgt hier Kundenbedürfnissen und nicht primär eigenen Interessen“).
Darüber hinaus müssen viele grundlegende Fragen beantwortet werden. Beispielsweise:
- Welche Positionierung streben wir als Unternehmen im Möglichkeitsraum zwischen digitaler und physischer Konsumwelt aktiv an?
- Welche Kundeninteraktionsstrategien verfolgen wir?
- Welche Mischungsverhältnisse passen zu uns und unserer Marke?
- Welche spezifischen Chancen und Risiken ergeben sich daraus für unsere Marke?
- Welche messbaren Folgen/ Wirkungen haben unterschiedliche digital oder physisch vermittelte Beziehungsansätze auf: Qualität der Kundenbeziehung, Kundenerleben, Kundenzufriedenheit, Kundenbegeisterung, Kundenvertrauen, Kundenloyalität, Markenerlebnis, Serviceerleben…
- Wie lässt sich in einer überwiegend technisch-funktional verfassten digitalen Konsumwelt Begeisterung für Unternehmen und Marken stiften?
- Auf welche Möglichkeiten der analogen Entfachung von Begeisterung für unsere Marke können und wollen wir auch in Zukunft nicht verzichten? Welche etablierten oder innovativen Formate passen hierfür?
- Wie lassen sich unterschiedliche digitale und physische/ personengesteuerte Touchpoints in der Customer Journeys bruchfrei, anschlussfähig und markengerecht integrieren und balancieren?
- Kennen wir – bezogen auf unsere eigenen Kunden bzw. Zielgruppen – die relevantesten Touchpoints und die zentralen Eck-, Dreh- und Angelpunkte in den Customer Journeys (mit Blick auf zentrale Phasen/Stationen der Awareness, Information, Entscheidung, Kauf/ Abschluss und Folgeprozesse)?
- Welche Gestaltungsoptionen haben wir, um relevante Touchpoints noch stärker zu Trustpoints und Customer-Delight-Points auszubauen?
- Wie können wir „Direct-to-Consumer“-Ansätze (digitale wie physische) noch stärker als Erfolgsbausteine in der Customer Journey nutzen?
- Welche Methoden des „Social Listening“ können uns in der digitalen Welt gezielt unterstützen, die Begeisterungsfaktoren für unser Unternehmen und unsere Produkte zu erfassen und zur Stärkung des Markenvertrauens nutzen?
- Welche Chancen, aber auch welche Gefahren der Fehlinformation oder Manipulation, ergeben sich aus der zunehmenden Verlagerung unternehmerischer Aktivitäten und Beziehungen aus dem analogen in den digitalen Raum?
- Wie können eigene Websites und Shops zu digitalen „Markenleuchttürmen“ ausgebaut werden?
- Verfügen wir angesichts der hohen Dynamik im Spannungsverhältnis über ausreichend veränderungssensible Instrumente und ein regelmäßiges Tracking an den für uns als besonders relevant und erfolgskritisch identifizierten Touchpoints?
- Welche Customer-Journey-Verläufe müssen differenziert werden (produktspezifisch, segmentspezifisch, typologisch etc.)?
- Wie lässt sich insgesamt vermeiden, dass digitale und physische Interaktionen nicht in unverbundene „Parallelwelten“ zerfallen; möglicherweise nicht mehr zusammenpassen oder sich sogar behindern/ kannibalisieren?
Im Kern geht es um die nachhaltige Gestaltung von Beziehungen
Pauschal beantworten lassen sich solche und weitere wichtige Fragen im Spagat zwischen digitaler und analoger Konsumwelt natürlich nicht. Dafür sind Anforderungen und Potenziale in unterschiedlichen Produktsegmenten und Unternehmenskontexten zu unterschiedlich und spezifisch. Einzelne Unternehmen und Marken sind hier als eigenständige Akteure, Entscheider und Gestalter gefordert. Als ein signifikantes Gegenüber.
Denn auch im Spagat zwischen digitaler und physischer Konsumwelt geht es im Kern weiterhin um verschiedene Formen, Inhalte und Qualitäten von Beziehungen. Die Art und Weise in der andere Menschen angesprochen werden, mit ihnen umgegangen, kommuniziert und interagiert wird.
Konkreter: um Vertrauen oder Misstrauen, um Begeisterung oder Enttäuschung. Um Bindung(skraft) oder Distanzierung. Um Dialog und Resonanz oder Verstummung. Um funktionale wie emotionale Beziehungsdimensionen.
Die digitale Welt hat hier auch für Unternehmen und die Gestaltung des Kundenkontaktes unzählige neue Möglichkeiten des Gelingens, aber auch des Scheiterns und Verlusts geschaffen. Im Ganzen verdrängen oder ersetzen können digitale die physischen und personengesteuerten Dimensionen der Konsumwelt freilich nicht. Es sollte daher auch nicht ihr irreführender Anspruch sein.
Im Gegenteil: Die Frage, ob Unternehmen und Marken ihr Potenzial wirklich nutzen, wird nicht zuletzt vom richtigen Mix aus digitalem und physischem Kontakt abhängen.
Diese Mischung, dieses dynamische Konglomerat aus Mensch und Maschine, ist als Gebilde und in der Balancierung nach innen hochkomplex (etwa mit Blick auf Marketing, Vertrieb und Kommunikation) – muss den Kunden aber als hochwertig, ansprechend, zusammenhängend und insbesondere auch als einfach erscheinen.
Bisher, das zeigen viele Marktforschungsergebnisse und Customer Journey Analysen, ist dies erst in Teilen gelungen. Teils auch nur unter spürbarem Verlust der emotionalen Bindungskraft von Marken insbesondere im digitalen Raum. Mehr denn je brauchen Marken heute auch unmittelbaren Kontakt zu ihren Kunden. Nur hervorragende Kenntnis der Präferenzen, des Nutzungsverhaltens und der Lebenswelt der Kunden ermöglicht die Schaffung deutlicher Mehrwerte. Darüber hinaus die Möglichkeit, auch umfassendere Leistungsversprechen zu formulieren und diese innerhalb digital-analog ausbalancierter Ökosysteme umzusetzen.
Betrachten Sie abschließend selbst noch einmal:
- Wie gut bewältigt und meistert Ihr Unternehmen – Stand heute – den fortwährenden Balanceakt zwischen digitaler und physischer Welt? Welche Entwicklungsbereiche, Potenziale und Zukunftsaussichten erkennen Sie?
- Welche Veränderungen und Schwerpunkte in der Bewertung des Verhältnisses zwischen digitalen und physischen Konzepten waren im Laufe der Zeit sichtbar? Sind die gewählten Lösungen ausreichend flexibel und anpassungsfähig?
- Wie gestaltet sich der interne Austausch zwischen Teams/Bereichen, die jeweils für digitale oder analoge Kontaktkanäle und Interaktionsformate zuständig sind? Was bildet die gemeinsame Basis? Wer kümmert sich um Integration und Ausgleich, um den ganzheitlichen Blick zu wahren?
- Welche Erkenntnisse liegen aus eigenen Kundenbefragungen und Customer Journey Analysen vor, um den Balanceakt zwischen digitaler und physischer Welt zu meistern? Finden regelmäßige Trackings statt, um der hohen Dynamik der Entwicklung gerecht zu werden? Wo bleiben wichtige Fragen bisher unbeantwortet oder sind lückenhaft?
Kontakt aufnehmen und weiter austauschen
Interessiert am weiteren Austausch zur Analyse, Bewältigung und Balancierung des Spagats zwischen digitaler und physischer Konsumwelt und ihren Interaktionsmodi im unternehmenseigenen Kontext? Dann sprechen Sie uns gerne persönlich an: Tanja Höllger – tanja.hoellger@heuteundmorgen.de – Telefon: +49 221 995 005-12. Wir freuen uns auf Ihre Anfrage und den vertiefenden Austausch mit Ihnen!
Weitere Blogbeiträge zur Digitalisierungsforschung und zur Markenführung und Markenforschung sowie zu vielen weiteren zukunftsrelevanten und innovativen Themenbereichen finden Sie regelmäßig auf der Themenübersicht unseres Blogs „Plan Z – Zeit für Zukunft“. Lassen Sie sich gerne auch regelmäßig über neue Blogbeiträge informieren, eine kurze Mail an uns reicht: blog@heuteundmorgen.de
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