Das «Metaversum» ist bisher nur eine Idee im Anfangsstadium. Größtenteils mehr Wunsch oder Fantasie als Wirklichkeit – je nach Blickwinkel auch ein grandioser Realitätsverlust oder eine Dystopie. Eine Welt, die sich nicht mehr nur als Parallelwelt ausgibt, sondern zunehmend als über allem stehende „Meta-Welt“.
Daher lohnt es, sich einmal mit der Frage zu beschäftigen, ob die Welt ein Metaversum – so wie es beispielsweise Mark Zuckerberg oder anderen Protagonisten vorschwebt – überhaupt braucht. Was der Purpose, der Sinn, der Nutzen und das Ziel, davon sein soll.
Folgt man den medialen Echos und Versprechen der Technologie-Treiber, gelten virtuelle Parallelwelten – in denen sich Menschen mittels VR-Brillen und digitaler Avatare räumlich begegnen und miteinander interagieren – als Zukunft des Internet, als Next Big Thing, als Megatrend, als Megamarkt.
Im Fokus stehen dabei nicht mehr nur mögliche einzelne Anwendungen der virtuellen Realität (VR) oder das punktuelle Verschmelzen der digitalen mit der physischen Welt zu einer erweiterten Realität (AR). Beispielsweise in Form eines möglichen virtuellen Besuchs eines Konzerts oder einer Sportveranstaltung in räumlich erlebbarer Live-Atmosphäre. Oder um den Einsatz von VR oder AR in bestimmten umgrenzten Anwendungsfeldern wie in der Medizin oder bei der Städteplanung.
Von der Idee der Protagonisten des Metaversum her geht es um weit mehr: um eine Weltveränderung. Um eine grundlegende Veränderung von Lebenswelten, Arbeitswelten, Verbraucherwelten etc.
Fest steht: Auf der Suche nach Innovationen und neuen Märkten ist der Kampf der Tech-Giganten um relevante Plattformen, Gates, Hardware und Software für das Metaverse längst entbrannt. Und auch viele Weitere versuchen, sich frühzeitig ein Stück vom Kuchen zu sichern, der freilich noch ungebacken ist und zu dem nicht mal ein Rezept vorliegt. Wieder einmal herrscht eine „Gold Rush“ Stimmung in der digitalen Welt. Ob der Kuchen auch den Anwendern und Verbrauchern einmal schmecken wird, ist dabei völlig offen (und wird bisher auch nur selten thematisiert oder vertiefend untersucht).
Neu ist die Vorstellung einer digitalen Parallelwelt freilich nicht – auch nicht der mediale Hype darum. Vor rund zwanzig Jahren – reifere Menschen erinnern sich – gab es mit «Second Life» bereits einen ersten Anlauf in diese Richtung. Einer, der trotz großem „Buhei“ allerdings weitgehend gescheitert ist. Und bei dem sich manche Investoren, Landnehmer und auch bisweilen gutgläubige Gefolgschaften eine blutige Nase geholt haben.
Auch andere kleinere Angänge – wie beispielsweise VR-Übertragungen in der Basketball-Bundesliga – fanden 2018 anfänglich Interesse von Early Adoptern, erreichten dennoch kein Massenpublikum.
Neuer Anlauf ins Metaverse
Nun aber soll alles noch größer und besser werden. Die Technologien dafür seien jetzt noch ausgereifter, und die Zeit für diese Idee nun gekommen – so heißt es. Nicht zuletzt der neue Mobilfunkstandard 5G mit seiner geringen „Latenz“ soll nun wahrhaft „immersive“ Erlebnisse ermöglichen.
Den neuerlichen Startschuss dafür hat Mitte 2021 der – in der Realität zunehmend angeschlagene – Facebook-Konzern mit seiner Umbenennung in „Meta“ (bzw. genauer: Meta Platforms Inc.) gegeben. Mark Zuckerberg möchte sich damit an die Spitze der Bewegung stellen, als Marke zum generischen „Tempo“-Taschentuch der Weiterentwicklung der digitalen Welt werden.
Solange das traditionelle Social-Media-Geschäft mit seinen oft fragwürdigen Geschäftsmodellen noch läuft, will man noch höher hinaus. Noch mehr aufs Ganze gehen, nämlich auf die ganze (neue) Welt. Frühzeitig „die“ Plattform bilden, Landnahme und Gatekeeping betreiben. Freilich soll dies in der Entwicklung noch mindestens 10 Jahre dauern. Die Anleger vertrauen dem Ganzen offenbar aber noch nicht recht: Seit seiner Umbenennung, und trotz der für viele Tech-Player eigentlich sehr profitablen Corona-Pandemie, hat das Unternehmen die Hälfte seines Börsenwerts verloren; rangiert nicht mehr unter den Top Ten der wertvollsten Unternehmen der Welt.
Ein nüchterner Blick zeigt zudem: VR-Brillen und VR-Anwendungen – von großen, vernetzten, virtuellen Welten einmal ganz zu schweigen – sind im Consumer Bereich bisher allenfalls Nischenprodukte und Nischenfelder. Experimentierfelder, die an sich durchaus interessant sind oder so erscheinen mögen. Ganz offensichtlich auch für Unternehmen, die letztlich den Betrieb des Metaversum auch (mit-)finanzieren sollen: Etablierte Fashion-Unternehmen und Luxusmarken (bspw. Nike, Adidas, H&M, Ralph Lauren, Gucci, Balenciaga & Co.) kreieren und verkaufen beispielsweise bereits „digitale Mode“ für das Metaverse.
Die Logik lautet: Wenn die – bisher allerdings sehr wackelige – Prognose stimmt, dass Menschen zukünftig immer mehr Zeit in virtuellen Welten verbringen, liegt nahe, dass diese auch immer mehr Wert darauf legen, wie sie sich dort darstellen. Personalisierte Avatare bieten Möglichkeiten dafür, die eigene virtuelle Persönlichkeit nach eigenen Wünschen zu gestalten und zu präsentieren. Andere Unternehmen versuchen im gedachten Metaversum vorab schon mal „Ländereien“ und Standorte zu besetzen (ähnlich wie seinerzeit schon auf der Plattform „Second Life“).
Doch liegt darin auch das Potenzial für einen in absehbarer Zeit relevanten und wachsenden Massenmarkt, der dauerhaft tragfähig ist? Einer, der über eine reine Gaming- und Entertainment-Welt hinausgeht? Einer, der mehr als nur Tech-Nerds anzieht? Einer, der statt nur kurzfristiger Neugier, wie bei VR Lösungen häufiger zu erleben, beständige Nutzung erzeugt?
Zwischen Weltflucht, Größenwahn und Totalitarismus
Beachtenswert ist, dass sich Meta (ehemals Facebook) heute primär nicht mehr als Social-Media-Unternehmen, sondern als „Sozialtechnologie“-Unternehmen versteht. Wem dies nichts sagt, dem sei empfohlen, sich einmal mit den historischen, konzeptionellen und ideologischen Wurzeln und Grundlagen der Sozialtechnologie und des Social Engineering im russischen wie amerikanischen Behaviorismus zu beschäftigen.
Dieser Schwenk erscheint auf der einen Seite nur konsequent: Die massenhafte Aufzeichnung und Nutzung von Verhaltensdaten zur Kontrolle, Steuerung und Beeinflussung möglichst großer Gruppen von Menschen – in der Fantasie idealerweise der ganzen Weltbevölkerung – lag implizit oder explizit, versteckt oder offen, immer schon in den Grundideen großer Tech-Konzerne. In der Gestalt eines so genannten „Sozialkredit-System“ in China oder andernorts wird zudem offenbar, dass dies zunehmend nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im staatlichen Überwachungsinteresse liegt.
Nebenbei geht es dabei auch um den Aspekt des „Herding“ (Herdenhaltung) – wohlgemerkt um Herdenhaltung im menschlichen Bereich. Wem dies zu abstrakt klingt, der sei beispielsweise an den vergleichsweise kurzen, aber gewaltigen und weltweiten Hype um das „Spiel“ Pokemon Go erinnert, das die „Laufwege“ großer Menschenmengen zu steuern und zu vermarkten vermochte. Sanktionsorientierte (an willfährigen Belohnungs- und Bestrafungssystemen ausgerichtete) Verhaltensüberwachungssysteme totalitärer Staaten sind eine andere „Spielart“.
Die Menschen und die Verbraucher haben hier bisher – mehr oder weniger bewusst – durchaus mitgespielt: Sie zahlen für die Dienste von Social Media und anderen Angeboten der digitalen Welt insgesamt oft lieber mit ihren Daten als mit Geld. Dies mag den einen erschrecken, den anderen entzücken, ist zunächst aber einmal Tatsache. Nur eines ist es sicher nicht: kostenlos oder folgenlos.
Auf der anderen Seite zeigt das sich wandelnde Selbstverständnis des Meta-Konzerns (aber auch vieler anderer Player): Es geht nicht mehr nur um massenhafte Verhaltensdatenerfassung (und den Weiterverkauf der Daten an die Werbeindustrie als grundlegendes Geschäftsmodell), sondern zunehmend auch um die Veränderung (und möglichst Beherrschung) der sozialen Welt.
Von der Grundlogik her liegt es da nahe, oder zumindest gar nicht fern, immer mehr Lebensbereiche und Lebenszeit der Menschen in eine Welt zu verlagern, die im Ganzen möglichst beherrschbar ist. Die Welt – und insbesondere die soziale Welt – zu einer überwachten und manipulierbaren „Laborwelt“ zu machen. Und dies eben gerade nicht im Sinne des Zukunftsromans „1984“ von George Orwell, sondern viel mehr im Sinne der Zukunftsutopie „Walden Two“ (1948) des Psychologen Frederic B. Skinner.
Nichts anderes beschreiben letztlich auch die Vorstellung und der Grundgedanke eines „Metaversum“. Menschen sollen sich dort begegnen, dort miteinander interagieren, dort arbeiten, dort einkaufen, sich dort amüsieren, dort leben. Und nicht mehr in einer als „überholt“ geltenden alten, analogen Welt. Zumal diese zunehmend als chaotisch, instabil und unberechenbar erscheint (so genannte „VUCA“-Welt).
Verliert die analoge Welt ihre Anziehungskraft und Stimme?
Warum aber ist diese aus Technologensicht „alte Welt“ so unattraktiv geworden, dass sie ihre Türen zu ihrer (gedachten) Abschaffung, zur Weltflucht immer mehr zu öffnen scheint? Sei es, indem man die Erde Richtung anderer Planeten ganz verlässt (ein weiteres Spielfeld der Tech-Protagonisten) oder aber in ein virtuelles Metaversum flüchtet und die Welt in eine Laborwelt verwandeln möchte?
Es würde hier zu weit führen, den verbreiteten Eskapismus, das Cocooning und die gescheiterten Versprechen der modernen Welt genauer zu beleuchten. Doch offensichtlich wird die Welt mit ihren Kriegen, Pandemien, Naturkatastrophen und – so der Soziologe Hartmut Rosa – nicht zuletzt mit ihrer zunehmenden Verstummung und dem Verlust an positiver Resonanz – dermaßen garstig, ungemütlich und bedrohlich, dass neue Welten und neue Heilsversprechen wie das „Metaversum“ auftauchen (können).
Doch zurück zur Ausgangsfrage: Braucht die Welt ein Metaversum (oder auch verschiedene Metaversen)?
Wäre diese Frage mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten, könnte man es sich leicht machen. Und einfach mit Nein oder mit Ja antworten. Und schon wäre die Welt – wie es dem Zeitgeist entspricht – in zwei Lager gespalten, die sich entsprechend mit Argumenten munitionieren und befeuern könnten. Dies beantwortet aber die Frage nicht wirklich.
Das Metaversum lässt zentrale Fragen offen
Ihrem Sinn nach lautet die Frage, differenzierter und realitätsnäher gestellt: Warum (aus welchem Anlass, aus welcher Motivation, aus welcher Absicht heraus) und ebenso: mit welchem Ziel und Sinn (nicht nur aus eigenem Nutzen heraus!) braucht die Welt ein Metaversum?
Genau diese Antwort bleibt uns das Metaversum (deren Protagonisten und Anhänger) bisher aber schuldig. Oder die Frage wird mit allerlei Manövern umschifft: Der Meta-Konzern setzt neuerdings, als mehr oder weniger geschickte Hilfskonstruktion, argumentativ auf die umweltbezogene Nachhaltigkeit eines Metaversum, gemäß dem platten Motto: Triff deine „Freunde“ im Metaversum, dann verbrauchst Du keine Energie, um dich dorthin zu bewegen, wo diese physisch präsent sind, oder: Mach virtuell Urlaub, dann sparst du Energie, um an deinen Urlaubsort zu kommen. Dass das gedachte und geplante „Metaversum“ selbst riesige Mengen an Energie und anderen Ressourcen verschlingen würde, bleibt gerne verschwiegen.
Am Ende bleibt die entscheidende – bisher weitgehend ungeklärte und unbeantwortete – soziale (und nicht technologische) Frage: Warum sollten sich immer mehr normale Menschen, in immer größerem zeitlichem Umfang, freiwillig und mit Begeisterung in virtuelle Erlebnisräume begeben? Warum sollten sie dort – und nicht primär jenseits davon in der analogen Welt – interagieren, einkaufen, arbeiten, sich amüsieren, leben?
Ohne eine überzeugende Antwort auf diese Frage wird das „Metaversum“ – zumindest in seiner gedachten Größendimension (d.h. jenseits einzelner nützlichen oder ergänzenden Anwendungen) – weiterhin auf sehr wackeligen und fragwürdigen Füßen stehen.
Zugleich und umgekehrt ließe sich fragen: Was erhoffen und erwünschen sich Menschen, die überzeugt sind von der Parallelwelt eines „Metaversum“? Vermag das Metaversum deren Hoffnungen und die eigenen Versprechen wirklich zu erfüllen? Oder handelt es sich nur um eine Gaukelei?
Fragen – nicht vorschnelle Antworten – führen weiter
Fragen Sie sich selbst einmal: Was bedeutet für Sie persönlich das „Metaversum“? Was verbinden Sie konkret damit? Haben Sie VR-Brillen und VR-Anwendungen schon einmal selbst ausprobiert (bspw. im Gaming- oder Entertainment-Bereich)? Wenn Sie eine VR-Brille besitzen: Nutzen Sie diese regelmäßig oder liegt diese (mittlerweile) eher ungenutzt rum? Wissen Sie, was „Motion Sickness“ ist?
Sind Sie beruflich schon einmal mit Aspekten des Metaversums in Kontakt gekommen? Wird, und wenn ja wie, in Ihrem Unternehmen vom „Metaversum“ gesprochen? Wie werden die Themen VR und AR in Ihrem Unternehmen bisher besprochen? Wo spielt dies möglicherweise eine relevante Rolle?
Generell sollten sich Unternehmen überlegen:
- Glauben wir im eigenen Unternehmen daran, dass das „Metaversum“ in absehbarer Zukunft eine relevante Rolle für uns spielt oder spielen könnte? In welchen Bereichen? Wie kommen wir zu unserer Einschätzung?
- Wollen wir auf den Zug aufspringen? Wenn ja: Warum und mit welchen konkreten Zielen?
- Was könnte in diesem Feld heute bereits sinnvoll pilotiert und evaluiert werden?
- Mit welchen positiven oder negativen Auswirkungen ist mit Aktivwerden im Metaversum in Hinblick auf unser Unternehmensimage zu rechnen?
- Welche marktforscherisch gestützten Ergebnisse liegen uns mit Blick auf unsere Kunden und unsere Angebote hierzu bereits vor? Welche sind sinnvoll zu erheben?
- Passen die Grundgedanken des Metaversum zu unserem Unternehmen, zu unserer Angebotswelt, zu unseren angestrebten Kundenbeziehungen?
- Können wir dort Limitationen überwinden, die unseren Erfolg bisher begrenzen (z.B. Anzahl der Standorte, Internationalisierung etc.)? Umgekehrt: Welchen Risiken setzen wir unser Unternehmen durch den Einstieg ins Metaversum aus (Art der Kundenbeziehungen)?
Insgesamt erscheint wichtig: Unternehmen sind handelnde Akteure, nicht nur Zuschauer. Sie bestimmen selbst mit, wohin die Reise auf und in der Welt geht. Dies gilt auch für die Zukunft und ein mögliches Metaversum.
Dass die möglichst umfassende Vermessung und Beherrschung der materiellen wie sozialen Welt (und manch damit verbundene Vermessenheit) dabei nur ein Weg ist, daran besteht wenig Zweifel. Die Welt zu verstehen, in einen anverwandelnden Austausch mit ihr zu treten, mit ihr zu schwingen, ihr zu dienen, ist ein anderer. Darin läge möglicherweise ein lohnender Pfad und wichtiger Baustein in der zunehmenden Suche von Menschen – und, den Management-Diskussionen der letzten Jahre folgend, nicht zuletzt auch von Unternehmen – nach echtem Purpose (Anm. d. Red.: siehe dazu auch unsere Übersichtsseite zu Purpose in Unternehmen) und Sinn.
Die Frage, ob das Metaverse – in breiter, nicht nur punktueller und gelegentlicher Form – in längerfristiger Zukunft ein großer und begehrter Rückzugsort von einer zunehmend ungewollten Wirklichkeit wird – oder ob es nicht besser und naheliegender wäre, mehr darin zu investieren und dazu beizutragen, die Wirklichkeit, die Welt, freundlicher, lebenswerter und in positiver Weise resonanter zu gestalten – lassen wir zum Schluss bewusst offen. Am Ende gilt es, diese Frage selbst zu beantworten: als Mensch, als Konsument, als Unternehmen, als Verantwortliche.
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Interessiert am weiteren Austausch zu den Themen, Metaversum, VR, AR und KI in unternehmensbezogenen und organisationalen Kontexten und diesbezüglichen Forschungsprojekten? Sprechen Sie uns gerne darauf an: Tanja Höllger – tanja.hoellger@heuteundmorgen.de – Telefon: +49 221 995 005-12. Wir freuen uns auf den Austausch mit Ihnen!
Weitere Blogbeiträge zu zukunftsrelevanten Themen, speziell auch zur Digitalisierungsforschung und zum Innovationsmanagement, finden Sie regelmäßig auch auf der Themenübersicht unseres Blogs „Plan Z – Zeit für Zukunft“.
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