„Covid-19“ hat unser gesamtes soziales Leben erschüttert. Ebenso wie auch unsere Sprache. Enorme Popularität hat dabei der fragwürdige – weil zumindest in Teilen irreführende, missverständliche und mehrdeutige – Begriff des „Social Distancing“ gefunden. Möglicherweise eignet sich dieser ja sogar einmal zum Unwort des Jahres 2020. Kristallisiert sich darin doch auch das ganze Ausmaß sozialer wie emotionaler Erschütterung, mit allen derzeit noch gar nicht absehbaren Folgen.
Was meint „Social Distancing“ bzw. soziale Distanzierung? Ist damit lediglich das räumliche Voneinander-Abstandnehmen gemeint? Gemäß Abstandsregeln also 1,5 oder auch 2 Meter? Wenn dem so ist, warum wurde bzw. wird das Gemeinte nicht einfach als „Physical Distancing“ bzw. als räumliche Distanzierung (o.ä.) bezeichnet? Räumliche Distanz wird gemeinhin in Metern, Zentimetern oder Kilometern gemessen. „Soziale Distanz“ ist hingegen ein Maß für den Abstand zwischen sozialen bzw. gesellschaftlichen Grenzen. Emotionale Distanz ist wiederum eine Maßeinheit für den individuell (oder auch gruppenweise) erlebten psychischen Abstand in der Beziehung zu anderen.
Worum geht es also? Wer soll sich von wem und wovon, auf welchem Wege bzw. mit welchen Mitteln, warum und zu welchem Zweck distanzieren?
Ging und geht es in den seltsamen und verwirrenden Corona-Zeiten nicht darum, eine bestimmte räumliche (körperliche, geografische, physikalische etc.) Distanz zu wahren –
uns zugleich aber weiterhin sozial nahezustehen und verbunden zu bleiben – also uns eben gerade nicht sozial voneinander zu distanzieren?! Ging und geht es nicht darum, soziale Nähe auch über räumliche Distanz hinweg aufrecht zu erhalten?!
Etwa mittels diverser Überbrückungsangebote (wie etwa Telefonie, Social Media, vernetztes Homeoffice, Zoom, MS Teamwork etc.). Oder auch anderen Formen räumlich „distanterer“ Beziehungsaufnahme und Kommunikation (Balkonkonzerte, Zettel-Botschaften, Zurufen etc.).
Was bedeutet also die merkwürdige Aufforderung zur sozialen Distanzierung, das Gebot und die Etikette des „Social Distancing“? Handelt es sich hierbei schlicht und einfach um eine naive Verwechslung von räumlicher und sozialer Distanz?
Anthropologisch wird unter „sozialer Distanz“ – in explizit räumlicher Betrachtungsperspektive – bisweilen auch der Abstand verstanden, den ein Individuum von sich aus spontan zu seinen Artgenossen einhält. Gewöhnlich sind dies, zumindest in unserer Kultur, 60 bis 80 Zentimeter – mit gewissen Unterschieden je nach Annäherungsrichtung von vorne, seitlich oder von hinten. Ob sich dieser „natürliche“ räumliche Abstand zukünftig einmal ausweiten wird – nahe lägen ja dann 1,5 oder 2 Meter – erscheint fraglich, aber auch nicht völlig ausgeschlossen oder unmöglich.
Viele offene Fragen
Doch zurück zum „Social Distancing“ als bewusstem sozialen Akt: Geht es hier auch noch um etwas anderes als lediglich räumlichen Abstand? Also etwa darum, sich bewusst aus öffentlichen „sozialen Räumen“ zurückzuziehen, diese zu meiden, sich von anderen (insbesondere von Unbekannten, Fremden etc.) bewusst sozial zu distanzieren?
Soziale Kontakte und soziale Nähe bis auf die allerengsten sozialen Kerne (oder sogar in diese hinein) runterzufahren – so wie es beispielsweise auch der dauerwerbeverbreitete Slogan „Stay at Home“ („Wir bleiben zu Hause“) nahelegte?
Meint „Social Distancing“ also auch den empfohlenen, verordneten oder selbstgewählten sozialen Rückzug aus einem als bedrohlich wahrgenommenen sozialen Raum bzw. auch dessen Schließung? Phänomene wie das „Corona-Cocooning“, oder auch die teils immer noch anhaltende und zukunftsoffene Schließung des „sozialen Raums“ von Kindergärten, Schulen oder Hochschulen, zählen beispielhaft hierzu.
Oder impliziert „Social Distancing“ in Realität und Konsequenz sogar noch mehr:
die gezielte Identifikation, Isolation und Ausgrenzung als bedrohlich, gefährdend und gefährdet wahrgenommener einzelner Menschen und sozialer Gruppen aus dem öffentlichen (sozialen) Raum? Wohlgemerkt nicht nur im Sinne einer räumlichen Quarantäne nachgewiesener Virenträger oder deren unmittelbarer Kontaktpersonen. Auch das lag und liegt bis heute leider keineswegs fern:
Insbesondere Alte und Kranke wurden auf dem Höhepunkt der Corona-Krise vorsorglich und ungefragt sozial isoliert; zu Beginn der Corona-Krise wurde ein großer Bogen um asiatisch aussehende Menschen gemacht, später dann um die „Heinsberger“, danach um die „Gütersloher“ etc.; im Saarland wurden (noch vor den fragwürdigen europäischen Grenzschließungen) Franzosen aus dem Elsass angepöbelt und aufgefordert, Deutschland zu verlassen. Quarantänemaßnahmen wurden und werden bis heute unter dem Label einer „sozialräumlichen Eindämmungsstrategie“ mancherorts nicht mit individuellen Testergebnissen oder tatsächlichen Risiko-Kontakten der Betroffenen begründet – die soziale Ausgrenzung kann bis heute Menschen alleine deswegen treffen, weil sie wohnen, wo sie wohnen.
Manch bittere Erfahrungen und Tragiken „zerfallender sozialer Nähe“ und „sozialer Ausgrenzung“ sind damit verbunden. Zurecht hat dies zunehmend auch Gerichte beschäftigt. Denn spätestens hier gerät „Social Distancing“ als bewusster sozialer Akt in seiner Begründungslogik und Verhältnismäßigkeit aufs Glatteis und verharmlost schwerwiegende Eingriffe in das soziale Leben. Droht am Ende – unbedacht oder gezielt – stigmatisierend, diskriminierend, schuldzuschreibend und auch menschenverachtend zu werden. Hat der in der Corona-Krise medial hochgeschossene und oft fraglos in die Alltagssprache übernommene Begriff „Social Distancing“ (der ursprünglich von der WHO ausging) dies sogar ungewollt befördert?
Letztlich bleibt verschwommen, was mit der Aufforderung zum „Social Distancing“ im
Corona-Kontext genau gemeint ist. Wovon, warum, zu welchem Zweck, in welcher Form (räumlich, sozial, emotional/psychisch etc.) und mit welchen konkreten Mitteln soll/will man sich distanzieren? Die unbedachte Rede vom „Social Distancing“ erscheint bei kritischer Betrachtung eher als Ausdruck und Verdichtung vieler Widersprüche, Verrückungen und sozialer Entgleisungen in einer merkwürdigen Zeit – als Verhaltensetikette hingegen leicht missverständlich und kaum hilfreich. Auf diese Weise wird leichtfertig darüber hinweggetäuscht, was soziale (und emotionale) Distanzierung im Corona-Alltag bedeutet hat und immer noch bedeutet. Die räumliche Abstandsregel (1,5 Meter o.ä.) oder die Maskenpflicht in bestimmten sozialen Kontexten sind demgegenüber deutlich klarer, transparenter, genauer, passender und widerspruchsfreier. Glücklicherweise ist der Begriff „Social Distancing“ auch in der medialen Verbreitung mittlerweile „out“.
Trotz räumlicher Distanz auch neue soziale Nähe
Gleichwohl haben coronabedingte Abstandsregeln und räumliche Distanz – und dies soll hier im Kontext ebenfalls betont werden – auch neue Formen der sozialen Nähe (!) hervorgebracht, zu neuer Achtsamkeit, Respekt, Solidarität und zu vielen Hilfsangeboten geführt – beispielsweise auch gegenüber Nachbarn, Kollegen oder bisher Fremden, zu denen man zuvor eher distanziertere oder noch gar keine Beziehungen pflegte. Licht und Schatten liegen gerade in Krisen eng beieinander…
Überlegen Sie selbst einmal: Was hat die erzwungene oder auch selbstgewählte räumliche Distanzierung in Ihrem Unternehmen in sozialer Hinsicht im Verlauf bedeutet und bewirkt? Welche positiven oder negativen sozialen Konsequenzen waren und sind bis heute noch spürbar? Was ist mit Vertrauen, Zusammenhalt und kollegialer Nähe in und zwischen Teams und im Gesamtunternehmen passiert? Welche (nicht nur rein technischen) „Überbrückungen“ sind nur Notlösungen, welche möglicherweise auch längerfristig lebbar und positiv nutzbar? Welche neuen Ideen für ein gutes soziales Miteinander im Unternehmen sind entstanden? Wie wird insgesamt mit den Themen räumliche und soziale Nähe und Distanz in Ihrem Unternehmen umgegangen? Was wird aktuell für die Zukunft diskutiert?
Was wird aus sozialer Nähe und Distanz?
Fest steht: Die Corona-Krise hat die gewohnte gesellschaftliche und individuelle Bedeutung und Balance von Nähe und Distanz zumindest vorübergehend deutlich destabilisiert und verschoben. Mit Corona ist der modernen Gesellschaft und sehr vielen Menschen ein ganzes Stück von ihrer Leichtigkeit, Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit im sozialen Umgang miteinander genommen worden.
Wie wird sich dies mittel- und längerfristig auf die Wahrnehmung verschiedener öffentlicher bzw. sozialer Räume auswirken? Werden sich diese dauerhaft verkleinern bzw. verengen? Werden (wieder) schärfere und weniger durchlässige soziale und psychische Grenzen zwischen „nah/vertraut“ und „fern/fremd“ gezogen? Werden Unternehmen nach außen verstärkt „geschlossene“, nach innen aber zugleich auch „fragilere“ und „unverbundenere“ soziale Gebilde werden? Findet zur Absicherung ein vermehrter Rückzug ins Private, Kleine und Überschaubare, in die eigenen Grenzen und in das Nationale und Regionale statt?
Oder wird das Bewusstsein dafür geschärft, dass wir – auch angesichts anderer Bedrohungen – alle in einem Boot sitzen? Was wird aus der spielerischen Geselligkeit? Was aus der Neugier auf andere und die Toleranz und Achtsamkeit gegenüber anderen? Was wird aus der Solidarität? Was aus den verbliebenen großen Gemeinschaftsevents (Konzerte, Fußballspiele etc., aber auch Friday for Future etc.)? Was aus den Bildern und Narrativen unbeschwerten sozialen Lebens? Wird wachsende soziale Distanz zum Normalzustand? Kurz: Was passiert mit dem Sozialen unter Bedingungen der Distanzierung?
Solche und weitere Fragen sind nicht einfach und derzeit schon gar nicht abschließend oder umfassend zu beantworten – dennoch ungemein wichtig. Im Alltag haben diese nicht zuletzt auch für Unternehmen ganz erhebliche Implikationen, die wir im vorherigen Blogbeitrag exemplarisch bereits ausgeführt haben.
Welche Langfriststrategien, welche möglicherweise neue Kultur des zwischenmenschlichen Umgangs brauchen wir, um mit großen Ereignissen wie Covid-19 – aber auch mit Klimawandel, Flüchtlingskrisen, Umbau der Wirtschaft etc. – und damit verbundenen Spaltungsgefahren umzugehen – gesellschaftlich, individuell und natürlich auch in Unternehmen?
Fest steht: Soziale Distanzierung – und insbesondere sehr enge soziale Grenzziehungen und starres Ingrouping/Outgrouping – ist auf Dauer kein guter Boden für gemeinsames Handeln, soziale Identifikation und Zusammenhalt. Das gelingt nur über den Aufbau sozialer Beziehungen und sozialer Nähe.
Neue Orientierungen oder neue Verwirrungen?
Ähnlich bedeutungsoffen wie von „Social Distancing“ gesprochen wird, ist es auch bei der „neuen Normalität“ – dem sogenannten oder vorgeblichen „New Normal“. Ausnahmezustände, Notlösungen, Überbrückungen und „Krücken“ werden hier kurzerhand zum (neuen) Normalzustand erklärt – beliebig je nach eigener Definition und Wunschlage. Vieles bleibt auch hier in seiner Zielrichtung und Begründung schwammig.
„Normalisiert“ und teils auch beschönigt wird hier recht vorschnell etwas, was zunächst eben gerade nicht normal ist – sondern außergewöhnlich, aus der Not geboren und keineswegs per se anstrebenswert oder begrüßenswert. Offenbar ist die Verstörung aber nur schwer auszuhalten und wird zur Normalität umgedeutet. Vieles, was mittlerweile bereits auf dem rhetorischen Schild des modischen „New Normal“ gelandet ist, wird voraussichtlich keine lange Halbwertszeit haben. Zugleich ist aber bislang gewohnte „Normalität“ natürlich nie auf Dauer zementiert oder unverrückbar.
Kurz: Krisenzeiten, in denen immer auch Achsen- und Koordinatensysteme verschoben werden, führen zu mancher Art begrifflicher und sprachlicher Verwirrung, und zu allerlei Versuchen der Neuorientierung, der Neudefinition und der Neuerzählung. Dies ist einerseits unvermeidlich, sollte zugleich aber mit Bedacht und unter fortwährender Realitätsprüfung geschehen. Wünsche und Hoffnungen – wie etwa auch auf kurzfristig verfügbare Corona-Impfstoffe – aber auch düstere Befürchtungen (wie etwa die 2. große Corona-Welle) sind menschlich verständlich, werden aber nicht immer real.
Vor diesem Hintergrund gilt es für Unternehmen, auch in der kommenden Zeit weiterhin besonders aufmerksam, neugierig und wo erforderlich kritisch zu bleiben. Dabei gilt es, immer wieder auch eigene Bezugssysteme, Perspektiven und Kommunikationsweisen zu überprüfen, zu hinterfragen und zu erweitern, adaptiv zu lernen und zu handeln. Denn was letztlich zukunftweisend und tragfähig sein wird, entscheidet sich nicht über Nacht und wird nicht durch einseitige und lediglich kurzfristige Betrachtungsweisen erkennbar.
Marktforschung mit Weitblick, mit klarer Orientierung am HEUTE und am MORGEN,
trägt besonders in aufgewühlten und unsicheren Zeiten dazu bei, Verwirrungen, Unsicherheiten und Vorurteile zu reduzieren, verschiedene Perspektiven und Szenarien auszuloten, eigene Einschätzungen und Vorhaben im Markt zu testen, neue Orientierungen, neue Schubkraft und neues Vertrauen zu gewinnen bzw. zurück zu gewinnen.
Dabei unterstützen wir Sie natürlich auch und gerade in bewegten Zeiten sehr gerne. Mit Begeisterung, in Verbundenheit und mit sozialer Nähe!
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