Von der Wiege zur Bahre – oder von der Wiege zur Wiege? Der deutsche Chemieprofessor und Verfahrenstechniker Michael Braungart wird seit den 1990er Jahren nicht müde, das Prinzip „Cradle to Cradle“ in der Produktion populär zu machen. Das Denken in geschlossenen Materialkreisläufen, die keinen „Abfall“ mehr produzieren, sondern nur noch nützliche Rohstoffe einsetzen und wiedergewinnen, findet mittlerweile immer mehr Gehör in der Wirtschaft.
Realisierung zukunftstauglicher intelligenter Produkte
Was sich zunächst kompliziert anhört, ist von der Grundidee recht einfach: Produkte von Anfang an so intelligent zu konstruieren, dass alle Materialien später wieder verwendet werden können. Jedes Bauteil, jeder Farbstoff, jeder Hilfsstoff wird so gestaltet, dass diese später wieder zurück in die Wertstoffkreisläufe kommen können. Es gibt also keinen Abfall mehr. Alles ist „Nährstoff“ in der Technosphäre und in der Biosphäre.
Um dieses Kreislaufprinzip auf unsere Wirtschaft anzuwenden, teilt das Cradle to Cradle Konzept die Welt der Produkte in zwei verschiedene Gruppen (Gebrauchsgüter / Verbrauchsgüter) sowie zwei verschiedene Nährstoffkreisläufe (technischer / biologischer) ein.
Heute ein Schreibtischstuhl, morgen ein Autoteil, übermorgen ein Fernseher
1. Gebrauchsgüter
Produkte, die für den längerfristigen Gebrauch hergestellt werden – wie etwa Automobile, Haushaltsgeräte, Teppiche, Büromöbel, synthetische Fasern etc. – bezeichnet das Cradle to Cradle Konzept (C2C) als Gebrauchsgüter. Ihre Komponenten sind qualitativ hochwertige, auf Beständigkeit angelegte Materialien wie Kunststoffe oder Metalle, die durch einen technischen Nährstoff-Kreislauf als dynamisches und verbleibendes Gut dauerhaft nutzbar gemacht werden sollen. Für Gebrauchsgüter bedeutet das: die Produkte so zu gestalten, dass die eingesetzten Rohstoffe nach Gebrauch sortenrein und ohne Qualitätsverlust zurückgewonnen werden können. So dass aus ihnen später wieder neue, gleichwertige Produkte entstehen können. Auf diese Weise entsteht ein echter, endloser Materialkreislauf, der keine Abfälle und Berge brachliegender Rohstoffe auf Mülldeponien mehr zurücklässt.
Heute ein T-Shirt, morgen Kompost für die Rosen
2. Verbrauchsgüter
Produkte, die aus abbaubaren Stoffen bestehen oder über eine begrenzte Lebensdauer verfügen, bezeichnet das C2C-Konzept als Verbrauchsgüter.
Beispiele hierfür sind Textilien aus natürlichen Fasern, kosmetische Produkte, Nahrungsmittel, Reinigungs- und Waschmittel, Zeitschriften, Windeln oder Verpackungsmaterialien für den Einweggebrauch.
Diese Verbrauchsgüter werden so gestaltet, dass sie als biologischer Nährstoff zurück in den biologischen Kreislauf eingespeist werden können. Hierfür müssen alle Produktkomponenten so ausgewählt werden, dass sie ökologisch sinnvoll, wieder verwertbar und frei von toxischen Substanzen sind.
Gewöhnlich ist dies nicht der Fall. Als Beispiel kann ein scheinbar harmloser Lederschuh dienen: Das Leder wird mit krebserregendem Chromium gegerbt; produziert wird in Entwicklungsländern, in denen kaum Arbeits- oder Umweltschutz besteht; die Schuhsohlen enthalten Plastik und giftige Klebestoffe. Fazit: Der Schuh ist nicht recyclebar, nach Gebrauch landet er in der Müllgrube.
Nach dem C2C-Prinzip kann der Schuh auch aus Leder und einer Plastiksohle bestehen, beides müsste sich aber wieder voneinander trennen lassen. Das Leder dürfte keine giftigen Klebstoffe enthalten und könnte auf den Kompost geworfen werden. Die Sohle könnte weitere Leben als Sohle, Tasche, Handycover etc. haben.
Ein Anfang ist gemacht
Mittlerweile haben bereits über 150 Unternehmen weltweit mehr als 400 Produkte nach den C2C-Kriterien auf den Markt gebracht. Darunter beispielsweise der deutsche Textilhersteller Trigema mit kompostierbaren Kleidungsstücken, der Einzelhändler C&A mit C2C-zertifizierten T-Shirts, der Sportkonzern Adidas oder der Reinigungsmittel¬produzent Frosch. Erhältlich sind auch schon nach dem C2C-Prinzip hergestellte Bürostühle, Bezugsstoffe, Fliesen, Teppiche, Toilettenpapiere und Shampoos.
Nun könnten sich Unternehmen aus dem nicht-produzierenden Gewerbe bequem zurücklehnen und sagen: das geht mich nichts an, wir produzieren ja keine stofflichen Waren.
Bei der Umsetzung von Cradle to Cradle sind letztlich aber alle gefragt, jedes Unternehmen (und auch jeder einzelne Konsument) kann hier aktiv werden!
Statt Bürostühle oder Teppichböden zu kaufen, die später auf der Mülldeponie landen, könnte Ihr Unternehmen einfach nur deren Nutzung einkaufen. Nach Gebrauch beispielsweise eines Teppichs würde der Hersteller diese zurücknehmen und einen neuen Teppich daraus produzieren. Um an die Rohstoffe bei Gebrauchsgütern zu gelangen, müssten die Unternehmen die Produkte wieder zurücknehmen. Umsetzbar wäre dies durch ein Pfandsystem oder durch die Vermietung beziehungsweise das Leasing von Produkten.
Und stellen Sie sich vor, dieser neue Teppich wäre völlig geruchslos, weil bei seiner Herstellung auf giftige Chemikalien verzichtet wurde. Und nicht nur das: Teppiche des Herstellers Desso dünsten im Gegensatz zu herkömmlicher Auslegeware nicht nur keine giftigen Moleküle aus, sie sollen sogar die Raumluft reinigen, indem sie Schwebeteilchen binden. Auch das ist Cradle to Cradle.
Lohnt sich das?
Braungart verdeutlicht an vielen Beispielen, dass „Kreislaufprodukte“ trotz hoher technologischer Ansprüche auf lange Sicht sogar billiger sind als „Wegwerfprodukte“ bzw. minderwertige Produkte. Insbesondere, wenn man nicht nur das Produkt und seinen Preis, sondern auch externe Kosten und die Lieferketten betrachtet. Ein Beispiel: Chinesische Solarmodule büßen in der Regel bereits nach wenigen Jahren die Hälfte ihres Wirkungsgrades ein, bei den europäischen sind es hingegen nur wenige Prozentpunkte. Trotzdem kaufen wir die vermeintlich billigere Version und übernehmen dann noch die Entsorgung als Sondermüll. Betrachtet man die gesamte Lebensdauer sind europäische Solarmodule auf Sicht von 20 Jahren viel günstiger als chinesische.
Oder es wird an den falschen Stellen optimiert: Momentan ist die Luft in Gebäuden oft stärker belastet als städtische Außenluft. Bestimmte Produkte halten heute vielleicht länger, sind dafür aber um ein Vielfaches giftiger geworden und verschmutzen dauerhaft unsere Umwelt. Ziel müsste aber sein, in Räumen leben und arbeiten zu wollen, die uns nicht krank machen und zukünftigen Generationen nicht mit riesigen Müllbergen zu beerben. Allein Deutschland produziert jährlich 45 Millionen Tonnen Müll. Der Müllkollaps droht – zu Lande und mittlerweile auch in den Weltmeeren.
Umdenken und Mitmachen sind gefragt
Trotz erster Erfolge steckt die Umsetzung von Cradle to Cradle noch in den Kinderschuhen. Der Ansatz bietet keine fertigen Lösungen, sondern ein Konzept nach denen konkrete Produktlösungen gestaltet werden und wie Produktlebenszyklen neu gedacht werden können.
Seine Hoffnungen für die weitere Entwicklung legt Braungart auf die Intelligentesten der Intelligentesten. Hohe Anforderungen stellt er besonders an junge Chemiker und Ingenieure. Denn ohne innovative Lösungen, die in vielen Bereichen erst noch entwickelt werden müssen, kann die Recyclingfähigkeit und Kreislaufkompatibilität aller Produktionsteile nicht gewährleistet werden. Bisher gibt es erst wenige Materialien, die wirklich diesen Ansprüchen genügen.
Doch auch bei uns Verbrauchern bedarf es eines Umdenkens um Cradle to Cradle zum Erfolg zu machen. Denn wenn C2C-Produkte – wie etwa auch der der „Greenpoint“ Stift von Stabilo – nicht zum Hersteller zurück gelangen, sondern im Hausmüll landen, dann ist der angestrebte Kreislauf am Verbraucher gescheitert.
Vielleicht muss sich die C2C-Idee auch erst mal stärker im B2B-Markt etablieren. Hier sind Materialkreisläufe deutlich einfacher zu organisieren. Sammelstellen für verbrauchte C2C-Büromaterialien lassen sich in Unternehmen deutlich einfacher installieren, als wenn jeder einzelne Verbraucher diese zurück zum Produzenten schicken müsste (was von der CO2 Belastung für Transport auch nicht gerade umweltschonend ist). Mit „Park 2020“, einem geplanten Büroareal in der Nähe des Amsterdamer Flughafens Schiphol, soll demnächst sogar das erste komplette „Cradle to Cradle Working Environment“ der Niederlande werden.
Fazit
Der Vision, die Begriffe wie Müll bzw. Abfall, und insbesondere das damit verbundene Denken, in Zukunft obsolet werden zu lassen, steckt eine enorme Strahlkraft inne. Sie ist hochspannend und vor allem auch eines: intelligent und zukunftsorientiert.
Riesige Mengen wertvoller Rohstoffe ungenutzt auf Mülldeponien zu lagern, immer mehr Umweltgifte freizusetzen oder etwa alle Plastikprodukte nur zu Parkbänken oder Mülltonnen zu recyceln, ist dies sicher nicht. Und: möglicherweise lässt sich das Grundprinzip „Cradle to Cradle“ statt „Cradle to Barrow“ auch auf andere Prozesse und Kreisläufe anwenden, etwa auf die Gestaltung von Dienstleistungen oder auf Kundenlebenszyklen.
Überlegen Sie doch einfach mal…
Weiterführende Links:
- https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/cradle-to-cradle-postwachstum-und-die-effektivitaet-von-kirschbaeumen-interview/
- https://www.zdf.de/dokumentation/planet-e/planet-e-eine-welt-ohne-muell-100.html
- https://www.zeit.de/zeit-wissen/2013/01/Cradle-to-Cradle-Recycling-Abfall/seite-2
- https://www.youtube.com/watch?v=yfNinEucsbE
- https://enorm-magazin.de/cradle-cradle-ist-europas-chance
- https://diepresse.com/home/leben/kreativ/635614/C2C_Kreislauf-statt-Sackgasse
- https://reset.org/wissen/cradle-cradle-recycling-rund-gemacht
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