Du bist, was Du (nicht) isst?

Mai 23, 2018

Du bist, was Du (nicht) isst?

Von der Sehnsucht nach Identität und ihren Fettnäpfchen

Essen und Ernährung. Seit Jahren ein omnipräsentes Thema in der Öffentlichkeit: Unzählige TV-Shows, Rezeptportale, Food-Zeitschriften und eine große Flut privater Blogs, Posts und Videos in sozialen Netzwerken kreisen darum. Superfood-Angebote und Nutrition-Shops erobern Städte und Provinzen.

Was sagt diese Allpräsenz aus über unsere Kultur und uns als Menschen? Was bedeuten Überwertigkeit und Exzessivität des Booms? Interessante Fragen, die hier freilich nicht erschöpfend beantwortet werden können.

Fest steht aber: Ernährung ist für viele Menschen längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Einfach gedankenlos zu essen ist „out“. Essen ist identitätsstiftend, offenbarend, vergemeinschaftend – grenzt zugleich gegen andere ab. Mit dem Essen verleibt man sich quasi nicht mehr nur Nahrung oder Genüsse ein, sondern auch eine Identität – und damit auch Verbundenheit mit anderen (Gleichesser) oder auch gezielte Abgrenzung (Andersesser / Allesfresser).

Wo Mitte des 19. Jahrhunderts für den Philosophen Feuerbach als Hinweis auf die notleidende Arbeiterklasse noch galt: „Der Mensch ist, was er isst.“, gilt heute das persönliche Motto: „Du bist, was Du isst.“ Und nicht zuletzt auch: „Du bist, was Du nicht isst.“.
Essen ist heute für viele Ausdruck emotional besetzter Einstellungen, Haltungen und Motive, die wiederum sehr unterschiedlich sein können.
Mal wird das Essensthema liebe- und lustvoll inszeniert, immer häufiger aber auch als „Futter“ für handfeste ideologische Auseinandersetzungen und „Hate Speeches“ benutzt. Essen ist Selbstoffenbarung und sozialer Kit. Man trifft sich – im virtuellen oder realen Raum – als Veganergruppe, als Suppenliebhaber, Slow-Food-Kenner, als Nutrition-Junkies oder ernährungsbewusste Welt-Retter. Manchmal einfach aus Spaß an der Freude, oft aber nicht.
Denn dafür ist das Essen ein viel zu ernstes Thema geworden.

Das musste bereits 2012 auch die ING-Diba erleben. Mit ihrem Werbespot mit Dirk Nowitzky, mit der Motivanlehnung an die in Kinderzeiten geschenkte Fleischwurstscheibe in der Metzgerei, wurde ein großer Shitstorm hervorgerufen – ein zu dieser Zeit noch recht neues Phänomen. Vegetarier fühlten sich schlicht ausgegrenzt und angegriffen, die vom Unternehmen angestrebte Metaphorik des „zusätzlich etwas geschenkt Bekommens“ hin oder her.
Es ging quasi um die Wurst und es entwickelte sich ein so benanntes „Wurst-Case-Szenario“.
Zahlreiche weitere Beispiele für solche ungewollten Wirkungen und „Identitätsverletzungen“ ließen sich aufzeigen.

Sensibilität, aber auch Gelassenheit sind gefragt

Was bedeutet dies nun für den sozialen Umgang? Was für die Beziehung von Unternehmen zu ihren Kunden? Sollte oder muss man zukünftig nicht mehr nur als Food-Produzent oder sonstiger Anbieter in der Ernährungswelt, sondern beispielsweise auch als Versicherer, Autohersteller oder Consumer-Electronic-Handel wissen, was ihre Kunden essen oder nicht?

Zielgruppenmarketing wird längst um lebensstilorientierte und viele weitere psychografische Merkmale ergänzt. Sollten nun auch das persönliche Essverhalten und die Einstellungen zu Ernährung oder Lebensmitteln mit berücksichtigt werden? Und auch noch deren unterschiedliche Motivationen (wie etwa körperliche Gesundheit, Tierschutz, Umweltschutz, Fair Trade etc.)?

Die Antwort lassen wir hier bewusst offen. Seriös lassen sich solche Fragen nur mit Bezug zu konkreten Anwendungsfällen beantworten.

Zumindest sollte auf Unternehmensseite aber das Bewusstsein wachsen: Dafür, dass bestimmte emotional besetzte Themen – hier verdeutlicht am Beispiel des Essens – in bestimmten Gruppen eine derart hohe Bedeutung gewinnen können, dass deren tatsächliche, nur scheinbare oder auch ungewollte Nichtberücksichtigung auf ausgeprägte Empfindsamkeit stoßen kann. Die gab es schon immer (und teils auch noch grundsätzlicher), die sozialen Medien haben dies aber potenziert. Je nach Blickwinkel liegen darin Chancen und Risiken.

Man kann es nicht allen recht machen

Es allen immer recht machen – und dies ist ebenso wichtig zu erkennen – kann man bei aller „political correctness“ freilich nicht.
Das sollte man auch gar nicht erst versuchen, dafür ist das Universum möglicher „Fettnäpfchen“ zu groß. Noch wichtiger: sonst hätte man keine eigene Identität mehr. Dies gilt nicht nur für den Einzelnen, sondern selbstverständlich auch für Unternehmen.
Sensibilität und Achtsamkeit im Umgang mit anderen sind gut und wichtig – was sich beispielsweise darin ausdrückt, dass es heute zum selbstverständlichen Standard gehört, dass in Unternehmenskantinen auch vegetarisches oder veganes Essen angeboten wird.

Dies sollte aber nicht zur Scheu vor Positionierungen, Spontanität und Lebendigkeit führen. Daher sei hier auch der manchem wohl bereits bekannte Witz erlaubt: Woran erkennt man einen Vegetarier? – Er erzählt es Dir!

Zum Schluss sei zum Thema „Essen und Identität“ noch die sehr amüsante Geschichte „Dr. Knöllges Ende“ von Hermann Hesse empfohlen. Zusammen mit der Geschichte „Der Weltverbesserer“ gibt’s das Buch bei Amazon oder Ebay gebraucht bereits für 59 Cent (kostenfrei vielleicht sogar in einem der öffentlichen Bücherschränke bzw. „Büchertankstellen“ in Ihrer Nähe…). Eine kleine Investition für eine entspanntere Zukunft, in der sich unterschiedliche Identitäten wieder mehr begegnen, austauschen und auch über sich selbst lachen können – statt sich in Kleingärten oder gar auf echten Schlachtfeldern zu beharken oder zu spalten.

 

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