Neue Produkte und Services werden für die Kunden entwickelt – sollte man meinen. Schließlich gilt es deren Wünsche, Erwartungen und Bedürfnisse zu bedienen. Sie sollen die Produkte später auch kaufen und nutzen. Klingt ebenso einfach wie selbstverständlich – und ist im Idealfall ein „Win-Win“ für alle Beteiligten.
Umso erstaunlicher erscheint, dass die Kunden im Prozess der Produktentwicklung und im Innovationsmanagement in der Realität oft erst sehr spät oder gar nicht einbezogen werden.
Nach wie vor wird viel Geld und Zeit investiert, um Produkte zu kreieren, die auf dem Reißbrett entstanden sind. Projektteams setzen sich zusammen, nutzen schicke kreative und agile Methoden und entwickeln neue Produkte, die in der eigenen Vorstellung zur „heißesten Innovation“ und „neuen Goldader“ in der Branche werden sollen. Begeistert ist man von sich selbst, dann müssen ja automatisch später auch die Kunden begeistert sein. Marktforschung wird hintenangestellt, allenfalls „über“ und nicht „mit“ den Kunden gesprochen. Freilich oft ohne dabei ein klares Kundenbild und Kundenverständnis zu entwickeln, das nur im (produktbezogenen) Dialog und Austausch gelingen kann. Spät – oft zu spät – wird sich gelegentlich immerhin noch besonnen, dass zumindest vor der Markteinführung die Kunden selbst mal zu Wort kommen könnten.
Die Konsequenzen sind bekannt: Viele neue Produkte und Services „floppen“ im Markt. Allenfalls kann nur noch nachträglich mit sehr aufwendigen Werbemaßnahmen versucht werden, die eigentlich am Kunden vorbei entwickelten Produkte irgendwie doch noch in den Markt zu drücken. Großes Erstaunen über die Kunden macht sich breit und Verantwortung für das – mit Blick von außen nicht selten voraussehbare – „grandiose“ Scheitern übernimmt keiner gerne.
Warum Produkte an den Kunden vorbei entwickelt werden
Als einige wiederkehrende Gründe, Mechanismen und Antriebe solcher, aus neutraler Sicht schlicht fehllaufender, Produktentwicklungsprozesse lassen sich nennen:
- Generelle Angst davor, sich dem Dialog mit den Kunden und deren Urteilen zu stellen.
- Sorge, die Marktforschung und der darüber vermittelte frühzeitige Austausch mit den Kunden könnte negative oder gar vernichtende Ergebnisse zu den Produktideen hervorbringen und damit frühzeitig deren Ende einleiten.
- Vorherrschendes Erleben von Kunden als „Fremde“ und „Störfaktor“ im Produktentwicklungsprozess – statt diese als Potenzial und Chance frühzeitig und aktiv zu nutzen.
- Isolierte Budget- und Zeitargumente, die auf möglichst schnelle und „billige“ Produktentwicklung zielen – freilich ohne jede Berücksichtigung der Kosten von Flops oder aufwendiger nachträglicher Nachsteuerungen.
- Abteilungs- und Inseldenken: Alternative und kritische – interne wie externe – Stimmen werden beiseitegeschoben; desintegriertes Eigenleben von Entwicklungs-Abteilungen bzw. Teams.
- Faktische Wissenslücken und Halbwissen: Beispielsweise werden aktuelle Veränderungen von Kundenbedürfnissen nicht erkannt bzw. nicht berücksichtigt oder Fragen nach noch fehlenden Kundeninformationen zu schnell übergangen.
- Pure Überheblichkeit und Ignoranz: „Unsere Idee ist einfach genial und wird ganz sicher im Markt einschlagen“ oder auch: „Wir wissen schon, was die Kunden wollen… – Marktforschung brauchen wir dazu nicht“.
- Generelle Randständigkeit oder Negativimage der Marktforschung: Wert der Marktforschung wird nicht gesehen bzw. nicht ernst genug genommen und in ihrer „kundenanwaltlichen“ und insbesondere auch in ihrer co-kreativen und innovationsunterstützenden Funktion unterschätzt.
- Generell wenig strukturierte organisationale Rahmenbedingungen und Prozesse für Produktentwicklung und Innovationen: Aktionismus statt echter Kreativität und Integration neuer Blickwinkel, rein lineare statt spiralförmig gestufte Entwicklungsbewegung.
Kurz: Kundenbeziehungsängste, Realitätsausblendungen, Kurzfrist- und Silodenken, desintegrierte Entwicklungsprozesse und auch schlichte menschliche Eitelkeiten führen in der Praxis der Produktentwicklung häufig dazu, dass die Kunden selbst oft „auf der Strecke bleiben“ und sich Unternehmen letztlich selbst schaden. „Loose-Loose“ oder „Lost in Phantasies“ statt „Win-Win“ nennt man so etwas.
Kunden frühzeitig in die Produktentwicklung einbeziehen
Dabei bietet gerade die qualitative Marktforschung – betrieblich und extern durchgeführt – zahlreiche und auch mit begrenztem Aufwand sehr gut nutzbare Methoden, die den Kunden bereits sehr frühzeitig in Produktentwicklungsprozesse einbeziehen. Und dabei nicht nur Hürden und Stolpersteine neuer Produktkonzepte identifizieren, sondern ganz unmittelbar auch die Ideen, Erwartungen und die Begeisterung der späteren Käufer, Nutzer und Anwender zum Sprechen bringen.
Welch großes Potenzial, das sonst verloren geht!
Beispielsweise lässt sich durch den Einsatz kreativer Techniken in Gruppendiskussionen die Lebenswelt der Zielgruppe genau beleuchten: Welche Bedarfe existieren in der Zielgruppe? Welche Bedürfnisse bestehen wirklich? Wo liegt der „Nerv der Kunden“? Wie sieht es mit der Integrierbarkeit in den Alltag aus? Welche Aspekte wurden bisher noch gar nicht gesehen? Welche Implikationen ergeben sich daraus für neue Produkt und Dienste?
Der Effekt neu entworfener Produkte und deren psychologische und soziale Wirkung auf den Kunden ist kaum vorhersagbar. Dies schließt zwar Zufallstreffer nicht aus; sehr viel wahrscheinlicher ist aber, dass „Reißbrett-Produkte“ wenig oder gar keine Aufmerksamkeit finden und schon bald wieder vom Markt genommen werden müssen.
Zudem reicht es für eigenständige Produktentwicklungen bei weitem nicht aus, nur Wettbewerbsbeobachtungen durchzuführen (Was machen die anderen?) oder nur den aktuellen Zeitgeist zu beobachten (Was ist gerade allgemein angesagt?).
Dies ist zwar wichtig, reflexartiges Aufspringen auf einen fahrenden Zug greift aber zu kurz:
Beispielsweise wird längst nicht jedes Produkt, das aktuell mit dem Label der „Nachhaltigkeit“ versehen wird, automatisch auch erfolgreich. Viele Kunden erkennen, dass solche Produkte oft nur mit heißer Nadel „gestrickt“ oder als reines Feigenblatt „gebaut“ werden. Mehr dazu auch in folgendem Blogartikel: Nachhaltigkeit: Zwischen Trend, Substanz und Kaisers neuen Kleidern.
Kurz: Der richtige – und bei nüchterner Betrachtung eigentlich auch sehr naheliegende – Start in Produktentwicklungs- und Innovationsprozesse findet im engen Austausch mit den Kunden und Hand in Hand in damit verbundener Marktforschung statt. Dies spart vergebliche Mühen, viel Zeit und Kosten, nimmt die Kunden in ihrem So- und Anderssein an, baut reinem Wunschdenken im Unternehmen vor und nutzt deren vielfältige Potenziale, deren Offenheit und Begeisterungsfähigkeit.
Kunden sind keine nach Belieben manipulierbaren Gegenstände. Erfolg ist nicht ohne diese bzw. vom grünen Tisch aus machbar. Kunden wollen zunehmend einbezogen werden und mitsprechen, erwarten, dass sie wirklich im Mittelpunkt stehen. Oder die Kunden strafen ihr Ignoriert-Werden später mit eigener Ignoranz, Shitstorms oder auch durch Wechsel zu anderen Anbietern – das müssen (und mussten schon) viele Entwickler und Marketiers schmerzlich erfahren.
Marktforschung in der Produktentwicklung als Prozessbegleiter nutzen
Der richtige Zeitpunkt für den Einsatz der Marktforschung beschränkt sich freilich nicht alleine auf die Frühphasen der Produktentwicklung. Idealerweise ist diese über den gesamten Prozess ein wichtiger Begleiter und Sparringspartner (inkl. Pretests sowie im Zuge der Markteinführung). Leitfrage ist dabei: Haben wir die Kunden in der jeweiligen Produktentwicklungsphase ausreichend einbezogen? Liegen die für den nächsten Schritt erforderlichen Insights vor (bspw. Produktbeurteilungen, Nutzenerwartungen, Nutzungsmotivationen, Relevanzbeurteilungen, Kaufbereitschaften, Preisbereitschaften, Feedback zu Produktnamen, Vermarktungs- und Vertriebsansätzen, Verpackungen)?
Darüber hinaus ist beispielsweise auch möglich, dass ein neues Produkt zwar erfolgreich gelauncht wurde und zunächst auch hohe Verkaufszahlen schreibt – diese aber dann schnell wieder einbrechen. Auch an dieser Stelle kann fundierte qualitative Marktforschung dazu beitragen, Licht ins Dunkel zu bringen:
Welche Motivationen und Emotionen befeuern die Kaufentscheidungen meiner Kunden, welche das Gegenteil? Löst mein Produkt dauerhaft die Emotionen aus, die beabsichtigt wurden? Was fehlt den Kunden nach der ersten Begeisterung an diesem Produkt? Oder auch: Was macht die Konkurrenz möglicherweise besser?
Letztlich entscheidend ist es, genau zu erkennen, warum und in welchen Kontexten sich Kunden für oder gegen ein entsprechendes Produkt entscheiden; nicht nur der reine Umstand, dass diese sich für oder gegen ein Produkt entscheiden.
Erfolgreiche Unternehmen realisieren Innovationen durch eine freischwingende, undogmatische Kombination aus Kundenwünschen, kreativer Ideenschöpfung, Intuition, Planung, Marktforschung und weiteren Faktoren. Nicht aus Scheuklappendenken oder aus starrem Entweder-Oder-Denken heraus.
Wer Bedarfe und Probleme frühzeitig erkennt und an dieser Stelle ansetzt, spart hohe Investitionen in Form von Zeit, Energie und Geld. Passgenaue, wirklich kundengerechte Produkte werden gerne gekauft und erhöhen natürlich auch Erträge. Wer frühzeitig und durchgängig die Kundensicht einnimmt, dem öffnet sich auch ein fruchtbares Umfeld zur Entwicklung neuer Produkte, für ergänzende Ideen und zur Vergrößerung der Produktpalette (Schaffung von Angebotsbiotopen).
Kunden und Unternehmen profitieren von einer solcherart unmittelbar aufeinander bezogenen, nicht nur isolierten, „mechanischen“ oder überhasteten Art der Produktentwicklung.
Die damit verbundene Anstrengung zahlt sich aus, schafft einen deutlichen Vorsprung vor der weniger achtsamen – und de facto weniger kundenorientierten – Konkurrenz.
Tipps für Ihre Produktentwicklung
Zum Abschluss noch einige Tipps für die Praxis Ihrer eigenen Produktentwicklung und für das Innovationsmanagement. Diese haben wir aus unserer umfangreichen Erfahrung mit gelungenen, wie auch zunächst weniger gelungenen Produktentwicklungsprozessen in Unternehmen abgeleitet:
- Alle Fakten und Aspekte auf den Tisch
Kundenbedürfnisse sind oft komplex, teils widersprüchlich und oft nicht einfach zu erfragen. Oberflächliche Lösungen, die sich auf spontan angegebene Bedürfnisse der Konsumenten beziehen, sind häufig zu schnell geschossen. Bevor mit der Problemlösung begonnen werden kann, gilt es den Kontext im Ganzen und die „wahren“ Bedürfnisse zu erfassen. Hierzu gehört die tiefgehende Analyse der Erlebenswelt des Kunden – nur wer die Hintergründe der Bedürfnisse seiner Kunden versteht, ist in der Lage, umfassend auf diese zu antworten und passende Lösungen anzubieten.
- Entwicklungsteams richtig zusammensetzen
Produktentwicklung ist ein vielschichtiger, kreativer und handlungsschrittiger Prozess.
Allen Abteilungen eines Unternehmens sollte die Möglichkeit zur Mitgestaltung gegeben werden. Auch wenn es auf den ersten Blick offensichtlich scheint, dass FE-Abteilungen oder das Marketing für kreative Fragestellungen verantwortlich ist, sollte nicht verkannt werden, dass Kunden ihre Anfragen und Wünsche beispielsweise häufig an die Kundenberater und die Verkaufsmitarbeiter oder auch an externe Vertriebe richten. Werden diese nicht ausreichend in den Produktentwicklungsprozess einbezogen, geht äußerst wertvoller Input verloren. Offener Austausch zwischen Abteilungen ist unverzichtbar, um kundenzentrierte Lösungen zu finden.
- Produktentwicklung regelmäßig am Laufen halten und Scheitern zulassen
Innovationen gelingen nur, wenn man auch Scheitern zulässt. Zugleich gilt es, schnell daraus zu lernen. Stellt sich etwas im (idealerweise) frühzeitigen Realitätstest als „Irrweg“ heraus, sollte nicht lange daran festgehalten werden – Auch wenn dies manchmal schwerfällt oder die Eitelkeit kränkt. Schon der nächste Versuch kann ein Treffer sein.
Wichtiger als nur auf ein großes neues Pferd zu setzen ist es zudem, eine regelmäßige Pipeline neuer Produkte aufzubauen. Amerikaner und auch Chinesen haben uns diesbezüglich immer noch vieles an Risikobereitschaft und Entwicklungsschwung voraus.
- Marktforschung als kompetenten Begleiter und Sparringspartner nutzen
Professionelle Marktforschung kann in allen Phasen der Produktentwicklung sehr wertvolle Dienste leisten: Als Vermittler und Übersetzer, als Korrektiv und Kundenanwalt, als Co-Creator und Co-Innovator, als aktiv und selbständig mitdenkender externer Begleiter und zuverlässiger und offener Sparringspartner. Nutzen Sie dieses Potenzial!
- Keine Angst davor, verrückt zu denken!
Egal wie unrealistisch eine Idee zunächst klingen mag: Lassen Sie sie zu. Fördern Sie das „Thinking out of the box“. Jede spätere Innovation ist zunächst nur eine, womöglich absurde, Idee und zu Beginn alles andere als perfekt. Die „Durchschnittsmitte“ ist für Innovationen kein guter Ratgeber. Erst Gedankenspiele und Visionen führen häufig zu innovativen Ideen. Hinzu kommt, dass heute beinahe vieles nicht mehr unmöglich ist: Was früher noch als Science-Fiction abgetan wurde, prägt heute unseren Alltag. Das Auseinandersetzen mit und das Überwinden von Hürden hilft, über sich hinauszuwachsen und unbekanntes Terrain zu betreten.
- Das Rad muss nicht immer neu erfunden werden
Innovationen können vieles sein: Eine komplett neue Kreation, aber auch eine wichtige kleine Optimierung. Auch wenn es vielleicht wenig aufregend scheint: Manchmal sind kleine Anpassungen am bestehenden Produkt exakt das, was der Kunde gerade braucht und wünscht. Wer seine Kunden und deren Bedürfnisse genau kennt, weiß ob große Investitionen oder das Drehen kleiner Stellschrauben nötig sind, um zu begeistern und den Absatz zu erhöhen. Echte Innovationen sind gut, erfolgreiche aber auch selten.
Lust auf weiteren Austausch zum Thema Produktentwicklung und Innovation? Dann sprechen Sie uns gerne an! Kontakt: info@heuteundmorgen.de – Telefon: +49 221 995 005-0.
Weitere Blogbeiträge zum Themenfeld finden Sie auch auf den Übersichtsseiten Innovationsmanagement, Marktforschung und Zielgruppenansprache.
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