Der indische Brahmane Sissa gilt der Legende nach als der Erfinder der Urform des Schachspiels im 3. oder 4. Jahrhundert nach Christus. Als Belohnung für seine Dienste gewährte ihm der König Shihram einen Wunsch. Sissa wünschte sich Reiskörner (manche Quellen sprechen auch von Weizenkörnern). Auf das erste Feld des Schachbretts sollte ein Korn gelegt werden, auf das zweite zwei Körner, auf das dritte Feld vier Körner usw. – sukzessive also immer die doppelte Menge bis zum letzten der 64 Felder.
Man kann sich spontan bereits vorstellen, dass auf dem letzten Feld ein ganz schöner Haufen Reis zusammenkommt, vielleicht auch ein ordentlicher Berg, aber eine noch überschaubare Menge.
In Wirklichkeit sind es aber unfassbare 18.446.744.073.709.551.615 Körner (knapp 19 Trillionen) – und damit weit mehr Reis, als es auf der ganzen Erde gibt!
Diese bekannte Geschichte („Weizenkornlegende“) ist noch immer eine der besten Verbildlichungen der ungeheuren Macht exponentieller Funktionen. Und sie ist ein Beleg dafür, dass der menschliche Geist nicht dafür gemacht ist, exponentielle Zusammenhänge wirklich zu begreifen. Der Mensch denkt primär linear.
Gordon Moore, einer der Mitgründer der Firma Intel, stellte Mitte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts das Gesetz auf, dass sich die Zahl der Transistoren auf einem Mikroprozessor – und damit einer der wesentlichen Indikatoren der Rechenleistung – alle 12 bis 24 Monate verdoppelt, also etwa alle 18 Monate. Bis heute hat er damit Recht behalten.
Grob gerechnet befinden wir uns damit heute auf der Mitte des Schachbretts und damit in einem Bereich, in dem die exponentielle Funktion in ihrer Wirkung schon ordentlich Fahrt aufgenommen hat. Wir spüren das heute in allen Lebensbereichen. Selbst ein Smartphone hat heute die vielfache Rechenkraft früherer Großrechner.
Aber wir sind erst in der Mitte des Schachbretts! Alles was wir bisher erlebt haben, ist nur ein laues Lüftchen im Vergleich zu dem Sturm, der noch kommt! Wenn wir heute glauben, der Fortschritt sei rasant, dann wird er in einigen Jahren Lichtgeschwindigkeit erreicht haben. Gerade einmal zehn Jahre sind seit der Einführung des iPhones vergangen und man kann sich kaum mehr an eine Gesellschaft ohne Smartphone erinnern. In Zukunft werden die Abstände zwischen neuen kultur- und gesellschaftsverändernden Technologien immer kürzer werden.
Eine Schlüsseltechnologie beginnt gerade wirklich zu funktionieren: die Künstliche Intelligenz (KI). Fast jeden Tag kann man hier von neuen Anwendungen und Fortschritten lesen. Die künstliche Intelligenz „AlphaZero“ der Google-Tochter DeepMind hat kürzlich in nur vier Stunden das Schachspiel als Autodidakt – also nur mit Vorgabe der Regeln – so gut gelernt, dass es sogar das Weltmeister-Schachprogramm Stockfish bezwingen konnte, das den stärksten menschlichen Schachspielern bereits weit überlegen ist.
Solche KIs, die eine sehr spezifische Aufgabe hervorragend bewältigen, bezeichnet man als Schwache Künstliche Intelligenz.
Von einer Allgemeinen Künstlichen Intelligenz, der nächsten großen Stufe, spricht man, wenn eine KI in der Breite so intelligent wird wie ein Mensch, also auf menschlichem Niveau ganz unterschiedliche intellektuelle Aufgaben bewältigt, sich beispielsweise in normaler Sprache unterhalten und komplexe Zusammenhänge verstehen kann.
Der nächste Schritt wäre die Superintelligenz, also eine Maschine, die dem menschlichen Geist in vielen Gebieten deutlich überlegen ist. Würde eine solche Intelligenz sich selbst immer weiter optimieren, könnte es zu einer Art „Intelligenz-Explosion“ kommen. Es würden also in kurzer Zeit immer neue Level der Intelligenz erreicht, die heute auch in kühnsten Projektionen nicht vorstellbar sind.
Dies klingt erst einmal alles nach Science-Fiction, nach einer sehr fernen Zukunft. Aber denken wir wieder an die Reiskörner und das Schachbrett und die Macht des exponentiellen Wachstums. Die größten Optimisten, etwa Ray Kurzweil, der Futurist und Director of Engineering bei Google, gehen davon aus, dass wir Allgemeine Künstliche Intelligenz bis 2030 erreichen könnten. Andere Forscher sprechen von 2040.
Wann auch immer, es dürfte zu einem Zeitpunkt passieren, den wir hoffentlich alle noch erleben werden, vielleicht sogar in unserem Berufsleben. Die Zukunft ist nicht aufzuhalten.
Um Missverständnissen vorzubeugen: KI macht den Menschen zukünftig weder überflüssig noch prinzipiell unterlegen. Der Mensch ist seinem Kern keine Rechenmaschine, er ist vielmehr deren intelligenter Schöpfer. Ethik, hermeneutisches Bedeutungsverstehen, Kreativität, Empathie, Lebensfreude, Leidenschaft und soziokultureller Handlungs-, Gestaltungs- und Entscheidungswille bleiben Privileg des Menschen.
Warum aber sollten uns hochintelligente Maschinen und Systeme nicht einen guten Teil unserer Arbeiten und Lasten abnehmen, uns Grundlagen für bessere Entscheidungen und bessere Voraussetzungen für gute Lebens- und Gestaltungsmöglichkeiten liefern?
Wir sollten versuchen, die von uns geschaffene KI und deren riesiges Potenzial zum Wohle aller zunutze zu machen. Und uns ein cooles Brett suchen, auf der Welle surfen und es genießen.
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